Blutrote Sehnsucht
vertrauten Stücken um: eine steinerne etruskische Fruchtbarkeitsgöttin, römisches Glas aus dem ersten Jahrhundert nach Christus, griechische Vasen in Schwarz und Rot, ein chinesisches Jadepferd. Die Sammlung hatte sich in den Jahrhunderten von Stephans Abwesenheit vergrößert. Er sah nun auch einen da Vinci, ein sehr schönes byzantinisches Triptychon und einen Mayakalender aus der Neuen Welt. Das brachte schmerzliche Erinnerungen zurück. Für einen Moment ließ Stephan den Blick durch das Zimmer gleiten, bevor er ihn auf den alten Mann in seiner Mitte richtete.
»Sei gegrüßt, Rubius.«
Der Alte nickte. Es war schwer vorstellbar, dass er das Oberhaupt der Vampirgesellschaft war, was von Stephan in seiner Jugend irgendwie auch nicht so recht gewürdigt worden war. Übergewichtig, weißhaarig, mit einem vollen Bart und rötlichem Gesicht, sah er mehr wie ein gutmütiger Riese aus als wie der oberste Vertreter einer Gemeinschaft, die von den Menschen für das personifizierte Böse gehalten wurde. Rubius war der letzte Überlebende jener, die als Erste aus dem Brunnen getrunken hatten.
»Sincai?« Rubius deutete auf den Brandy und zog die buschigen weißen Brauen hoch.
Stephan nickte nervös. Rubius schenkte ihm etwas ein und reichte ihm das Glas. Stephan stürzte den Alkohol in einem Zug hinunter und hoffte, dass er ihn beruhigen würde.
Rubius schenkte auch sich ein Glas ein und deutete auf einen Sessel. »Warum bist du hier, mein Junge?«
»Das weißt du«, antwortete Stephan mit leiser Stimme und ohne sich zu setzen.
»Aber ich will es von dir selbst hören«, entgegnete Rubius ruhig und musterte ihn prüfend.
Stephan holte tief Luft. Es war so weit. Schluck deinen Stolz hinunter , sagte er sich. Nach allem, was er getan hatte, hatte er kein Anrecht mehr auf Stolz. »Ich bitte um Erlaubnis, das Gelübde ablegen zu dürfen.«
»Na, das finde ich ja ausgesprochen interessant«, stellte Rubius nahezu flüsternd fest. Vampire verfügten über ein scharfes Gehör. Es war, als hätte Rubius nach all den Jahren, in denen er nur mit Angehörigen seiner eigenen Spezies gesprochen hatte, kein Verlangen mehr, sich anzustrengen, in normaler Lautstärke zu sprechen. Er stellte sein Glas ab und legte einen Finger an die rote Nase. »Einer, der unsere Regeln gebrochen hat, nein, sogar versucht hat zu beweisen, dass sie falsch sind, will sich jetzt unserer kostbarsten Regel überhaupt bedienen.«
Das war’s. Rubius würde ihn nicht aufnehmen. Das Gefühl der Leere, das sich in Stephan breitmachte, drohte ihn in den Wahnsinn zu treiben. »Es war falsch von mir«, sagte er. Vergiss deinen Stolz!, sagte er sich. »Geschaffene und geborene Vampire sind nicht gleich.«
»Dein kleines Experiment mit der Araberin hat fast unsere Welt zerstört, Junge!«, flüsterte Rubius aufgebracht. » Falsch beschreibt nicht einmal annähernd, was du angerichtet hast.«
»Nein.« Stephans Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren düster. Er stimmte zu, obwohl er wusste, dass das nicht genügen würde. Rubius würde ihn nicht mehr in Mirso aufnehmen.
»Was hattest du denn vor? Den Ältesten die Autorität absprechen, wenn du bewiesen hättest, dass unsere Regeln falsch waren?«
»Ich ... ich weiß es nicht. Ich dachte, geschaffene Vampire könnten zu wertvollen Bürgern gemacht werden ...«
Rubius hatte nur ein Abwinken für diese Einfalt übrig. »Stolz. Rebellischer Stolz. Wir haben dich aufgezogen, Junge, dich unterrichtet und wie einen kostbaren Schatz behandelt. Und du vergeltest es uns mit Verrat.« Er hatte begonnen, auf und ab zu gehen, und bewegte dabei seine massige Gestalt mit überraschender Anmut. »Und selbst als dein Experiment fehlschlug und das Biest versuchte, Beatrix umzubringen, die eine geborene Vampirin war, und den Kontinent durch diesen menschlichen General zu regieren – wie hieß er doch noch?«
»Bonaparte, Ältester.« Stephan bemühte sich um einen ausdruckslosen Ton, was ihm gar nicht schwerfiel.
»Selbst da hast du sie gehen lassen.«
»Ich dachte, im Exil ...«
»Versuch nicht, dich zu rechtfertigen!« Rubius fuhr zu ihm herum, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und setzte die Wanderung dann fort. »Sieh doch nur, wohin es geführt hat! Sie fand einen der Hochbetagten und nahm sein Blut. Sie war fast so stark, dass keiner von uns sie aufhalten konnte. Und überall schuf sie Vampire«, murmelte er. »Für Khalenberg und Davidoff, Urbano und die anderen war es äußerst mühselig, sie
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