Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutrotes Wasser

Blutrotes Wasser

Titel: Blutrotes Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Torsten Krueger
Vom Netzwerk:
wirklich, oder? Ein Überlebender. Holló hatte es ihm erklärt. »Es gibt einen Sinn, Lázlo«, hatte er gesagt. »Dass du nicht gestorben bist, hat einen Sinn.«
    Einmal hatte sich die
Fekete Sereg
wieder im großen Fackelsaal versammelt. Wieder hatten sie »Auf in die Freiheit!« gebrüllt. Und diesmal brüllte Lázlo, nachdem ihn Frosch merkwürdig angeschaut hatte, einfach mit. Machte sogar Spaß. Ein Teil von etwas Größerem sein, ein wichtiger Teil. Der kleine Frosch war überhaupt nett. Sie trafen sich oft in der Küche. Erzählten sich ihr Leben. »Weißt du«, hatte Frosch gesagt, »was das Schönste war in meinem Leben, bevor die Schwarze Armee mich aufnahm?«
    »Na, was?«
    »Aus altem Zeitungspapier ein Boot zu falten und es auf der Donau schwimmen zu lassen.« Frosch hatte Tränen in den Augen, als er das sagte. Und Lázlo wusste genau, was der Hänfling
nicht
sagte: Dass es eben diese Erinnerung war und keine Geburtstagsparty mit seinen Eltern, kein Urlaub, kein Familienglück.
    Lázlo hörte zu. Er schlief und war trotzdem müde; das Licht ging an und aus. Er lernte andere der
Sereg
kennen, André etwa, dessen Vater beim Militär war. André, der Zigeuner und Juden wirklich nicht ausstehen konnte und Lázlo bei vielen Plastikbechern Bier die Ohren mit seinen Parolen zubrüllte, sodass er schließlich nur noch nickte. War ja auch was dran. So dumm war André eigentlich gar nicht. Lázlo schlief, wachte auf. Er aß und trank und ging aufs Klo. Und war müde. Die anderen mochten ihn. Klar hatte er Freunde, aber das hier war etwas anderes. Das war eine Gruppe, das waren Menschen, die sich gegenseitig achteten. Das war … eine Gemeinschaft. Das Licht ging aus. Schlafen. Das Licht ging an.
    »He, Langschläfer, komm schon!« Frosch stand an seinem Bett und rüttelte ihn wach.
    »Was’n los?«
    »Kleines Training.«
    Verschlafen schlüpfte Lázlo in seine Turnschuhe und schlurfte hinter ihm her. »Mit Hanteln und so?«, brummte er.
    Frosch lachte. »Nein. Mit dem Kopf.«
    Er führte Lázlo in einen vergammelten Raum. Hier war der Putz schon fast ganz abgebröckelt, es roch muffig und nach vergangener Zeit. Acht Stühle standen im Kreis, in einer Ecke stapelten sich flache Sportmatratzen, wie sie Lázlo aus der Turnhalle kannte. Er setzte sich. Neben Janosch, Frosch und André waren noch drei andere Jungs da.
    »Hallo, Jungs«, murmelte Lázlo.
    Dann trat Holló ein. Ein Ruck ging durch sie, auch Lázlo spürte, wie er sich unwillkürlich straffte. Der Rabe hatte Lázlo schon viel von seinem Vater erzählt. Von seinen Träumen. Wie stolz er auf seinen Sohn gewesen sei. »Lázlo wird mal ein ganz Großer«, hatte sein Vater gesagt. Hatte Holló gesagt. Warum zum Teufel war er nur so müde?
    »Willkommen zum Training«, begrüßte sie der Rabe ohne Umschweife. Wie immer trug er den schwarzen Umhang, die Handschuhe und natürlich die Maske. »Wer möchte anfangen?«
    »Ich«, meldete sich ein schweigsamer Typ namens István.
    »Das freut mich, István.« Die Silbermaske neigte sich dem Jungen zu. »Beginne!«
    »Ich … ich möchte euch von einer Demütigung erzählen, die ich noch nie jemandem anvertraut habe.« István zögerte.
    »Lass dir Zeit«, nickte Holló.
    »Also, ich war damals noch klein, aber nicht mehr so klein, wisst ihr.« Schweigen. »Ich ging in die Grundschule, es muss die zweite Klasse gewesen sein.« Nervös scharrte István mit den Füßen. »Also, euch kommt das bestimmt bescheuert vor, aber ich …«
    »Wir hören«, soufflierte der Rabe.
    »Also, ich, ich … Wir hatten gerade Mathe. Das kleine Einmaleins. Und da, da musste ich mal, aber ich habe mich nicht getraut zu fragen, und dann konnte ich’s nicht mehr einhalten und dann … dann habe ich mir in die Hose geschissen.«
    Ängstlich blickte István auf. Lázlo war schon kurz davor, loszulachen, aber dann sah er die Blicke der anderen, die auf István gerichtet waren: ernst, traurig und – ja, verdammt – teilnahmsvoll.
    »Natürlich«, fuhr István stockend fort, »haben es alle irgendwann gerochen, ich meine … Aber ich hab nichts gesagt, ich habe mich geschämt und wie alle anderen gerufen: Also ich bin’s nicht. Und dann war irgendwann die Schule vorbei und ich bin nach Hause gerannt und hab geheult.« Tränen rannen ihm auch jetzt wieder über die Wangen.
    Schweigen. Aber diesmal ein anderes Schweigen. Erleichtert?
    Sie warteten.
    »Danke, István«, sagte Holló schließlich. »Es gibt nichts, wofür du dich schämen

Weitere Kostenlose Bücher