Blutrotes Wasser
tastete mit dem Licht über Fels und Algen. Da: ein Plastikkanister. Sie schwamm darauf zu, erkannte das internationale Symbol für hochgiftige Stoffe: einen grinsenden Totenkopf auf orangefarbenem Grund. Lena schluckte. Ha-Hu, Ha-Hu, machte ihr Atem. Vorsichtig schwamm sie näher heran und entdeckte den Timer. Digitale Ziffern rasten rückwärts: Stunden, Minuten, Sekunden. Noch 11 Minuten. Vier kleine dünne Drähte, genau wie Lázlo gesagt hatte. Lena fingerte nach dem Tauchermesser. Jetzt bloß keinen Mist bauen! Ihre Finger zitterten, die Panik machte einen letzten Versuch und warf sich mit voller Wucht gegen ihre Zellenwände. Ha-Hu, Ha-Hu. Gott, jetzt hatte sie wirklich Schiss. Noch einen Augenblick länger und sie würde ins Wasser pinkeln, Ha-Hu, Ha-Hu, also los, jetzt mach schon!
Sie fasste einen der Drähte, knickte ihn zusammen und fuhr mit dem Messer darunter. Es war scharf, Lena achtete immer darauf, ihre Ausrüstung bestens in Schuss zu halten. Die Klinge glitt durch den Draht – nichts passierte. Die Sekunden rannten und rannten über das kleine Display. Jetzt der zweite Draht. Und es war geschafft. Wilde Freude durchflutete Lena, als die Ziffern plötzlich stehen blieben, in grotesker Ziffernfolge erstarrt. Sie hatte es wirklich geschafft. Sie war Lena die Große, die Kämpferin, die Geniale. Sie atmete ruhig, sah ihren Luftblasen nach, die nach oben trudelten und sich an der felsigen Höhlendecke verfingen. Ganz langsam richtete Lena ihre Lampe darauf. Nein. Das …
Zwei Meter über ihr leuchtete es schmutzig weiß auf. Schnell stieß sie nach oben und zählte. Vier, nein fünf weitere Kanister mit Gift. Fünf munter vor sich hin rennende Uhren-Displays, die Sekunden niedermachten. Es war genau 16.56 Uhr.
16.56 Uhr, am Eingang des Gellért-Bades
Rot 3 hieß Mihály Dudas und pfiff aus dem letzten Loch. Gott hatte mal wieder seine gesamte Tagesration Müll über Dudas ausgekippt. Ein Unglück kam eben selten allein. Erst hatte er sich, als er vom Höhleneingang der Taucher zum Gellért-Bad losspurtete, den Knöchel verstaucht. Aber das ging, schließlich war er ein harter Bulle, Zähne zusammenbeißen und weiter. Aber dann war er mit einer Truppe Besoffener kollidiert, die dem heiligen Stephan zu Ehren schon zu viel Bier gekippt hatten. Mihály Dudas wich aus, so gut er konnte, aber rempelte doch einen der Feiernden an, was unausweichlich, nach Gottes Ratschluss und Segen, in eine handfeste Prügelei ausartete. Nach diesem Zwischenfall war nicht nur Dudas’ schickes neues Hemd eingerissen, sondern auch sein Ohrstöpsel verschwunden gewesen. Keine Zeit, um ihn zu suchen. Weiterrennen, weiterhumpeln. Verflucht! Endlich stand er am Eingang des Gellért-Bades. Aber er wusste: Er würde zu spät kommen.
16.57 Uhr, vor dem Parlament
Der Schlüssel zitterte in Lázlos Fingern, der Generalschlüssel für das ungarische Parlament. Er hatte die Brunnen, von denen seine Mutter gesprochen hatte, schnell gefunden, zwei runde steinerne Kreise auf dem Parkplatz. Allerdings mit Bronzehauben abgedeckt – von Springbrunnen war nicht die Rede. Er hatte erst den einen umrundet, dann den zweiten und tatsächlich eine Luke entdeckt. Lázlo kümmerte sich nicht um die Menschen, die auch hier über die Wege strömten, sich auf den Wiesen sonnten oder sich frisch gekaufte Leckereien in den Mund stopften. Er sah nur auf den Schlüssel in seiner zitternden Hand und auf die Luke am Boden. Und er dachte an den Wahlspruch der Budapester, der von Nikolaus Graf Zrinski stammen sollte, einem kroatisch-ungarischen Dichter aus dem 17. Jahrhundert. Ein echt toller Wahlspruch, der Lázlo immer gefallen hatte: »Wir brauchen Glück, sonst nichts.« Passte doch wunderbar. So einfach war alles, da hatte der Mann recht. Lázlo senkte den Schlüssel und rutschte ab. Atmete tief ein. Wir brauchen Glück, sonst nichts. Der Schlüssel passte. Mit einem knarrenden Laut konnte Lázlo die Luke nach oben ziehen und eine schmale Trittleiter erkennen. Erleichtert und verärgert zugleich stieg er hinab. Tunnel. Schon wieder Tunnel. Er hasste sie.
16.58 Uhr, Gellért-Bad
Géza streckte sich wohlig im Thermalwasser und schob sich die Badekappe zurecht. Ah, das tat gut. Schade, dass Imre nicht hier war, eine Schachpartie mit ihm hätte alles noch schöner gemacht. Aber Rutschek hatte im letzten Moment abgesagt, er müsse auftreten, es gehe nicht anders. Géza gönnte es seinem alten Freund, er wusste, wie viel dem seine Violine und die Musik
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