Blutsauger
mehr ans Telefon ging. Auch in ›der Firma‹, wie sie ihre wissenschaftliche Einrichtung beim Flughafen nannten, konnte niemand sagen, wo Maronn zu erreichen war.
Claus Humstett blieb einen Augenblick lang hinterm Steuer sitzen, während die abgeblendeten Scheinwerfer das roh belassene Mauerwerk vor ihm beleuchteten. Dort wehten in der aufsteigenden Warmluft des Motors einige alte Spinnweben, die vermutlich vom Herbst stammten. An der rechten Seite warfen alte landwirtschaftliche Geräte lange Schatten an die Wand. Humstett hatte dort Sensen, Äxte, Schaufeln und Rechen angelehnt, um sie eines Tages als Dekorationsobjekte zu nutzen.
Beim Öffnen der Fahrertür musste er jedes Mal aufpassen, nicht gegen einen Leiterwagen zu stoßen, dessen hölzerne Räder mit Metall beschlagen waren. Nachdem er die Scheinwerfer abgeschaltet hatte, umgab ihn die nächtliche Finsternis. Er stieg langsam aus, was ihm angesichts der Enge einige Verrenkungen abforderte, und warf einen prüfenden Blick in den inneren Rückspiegel. Darin war der von einer nahen Straßenlampe nur schemenhaft erhellte Vorplatz zu sehen. Für einen kurzen Moment hatte er geglaubt, irgendeine Bewegung wahrgenommen zu haben. Sicher eine Täuschung, versuchte ihn sein Gehirn zu beruhigen. Er zwängte sich rückwärts aus dem Wagen, spürte die beißende Kälte und ärgerte sich wie immer, dass er das altmodische Flügeltor noch nicht durch ein elektrisches hatte ersetzen lassen. Dazu jedoch wäre es notwendig gewesen, diese Scheune zu sanieren, vor allem aber neben dem Eingangsbereich das Gerümpel zu beseitigen, das er nur provisorisch beiseitegeschoben hatte.
Noch während er mit dem Rücken zum Tor in dem schmalen Spalt stand, den ihm die Autotür in dieser drangvollen Enge zum Aussteigen bot, war es wieder da – dieses Gefühl, hinter sich eine Bewegung verspürt zu haben. Aber zum Reagieren blieb ihm keine Zeit mehr. Etwas wurde ihm von hinten blitzartig über den Kopf gestülpt, streifte Stirn und Nase und umklammerte seinen Hals.
58
Es war höchste Zeit, dass er nach Hause ging. Häberle brauchte den Schlaf dringend – denn auf dem knapp vierstündigen Flug von Stuttgart nach Gran Canaria würde er morgen Vormittag kaum Ruhe finden. Ein kurzer Anruf bei den dortigen Kollegen hatte ihn zuversichtlich gestimmt. Der Kontakt war mithilfe der Landespolizeidirektion zustande gekommen, die sogar einen deutschsprachigen Kriminalbeamten ausfindig gemacht hatte. Vermutlich, so dachte Häberle, war es auf den Kanaren für Polizisten in gleicher Weise notwendig, deutsch zu sprechen, wie es sich in Deutschland als hilfreich erwies, ein paar Worte türkisch zu kennen.
Noch im Hinausgehen informierten ihn zwei Beamte der Sonderkommission, dass es endlich gelungen sei, Frau Brugger ans Telefon zu bekommen. Sie könne sich nicht erklären, weshalb man sie bislang nicht erreicht habe. »Checkt das ab«, beschied Häberle, um sich im Weitergehen erneut umzudrehen: »Weiß sie denn vom Tod ihres Mannes?«
»Von uns nicht«, gab einer der Männer kleinlaut zu. »Wir haben ihr nur gesagt, dass wir dringend persönlich mit ihr reden müssten. Noch heute Abend.«
»Und? Klappt das?«
»In einer Dreiviertelstunde sollen wir kommen.« Der Tonfall ließ erkennen, dass dem Beamten das Überbringen einer Todesnachricht schwerfallen würde.
Häberle versuchte, ihn aufzumuntern. »Dann nehmt einen Notfallseelsorger mit.«
Anschließend verabschiedete er sich von allen Kollegen mit einem »Adios amigos«. Er war müde und brauchte Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. So ganz sicher war er sich nicht mehr, den oder die Mörder auf Gran Canaria anzutreffen. Aber zumindest konnte dort der Schlüssel zu allem liegen.
»Da haut’s dir’s Blech weg«, entfuhr es Linkohr das eine ums andere Mal. Was Kerstin nach ihrer Rückkehr aus der – wie sie es formulierte – Schneehölle der Kuchalb berichtete, war für beide äußerst überraschend gewesen. Nicht der Inhalt des kurzen Gespräches, das sie mit dieser echten Frau von Willersbach geführt hatte, war der Anlass, sondern eine Beobachtung.
»Das würde manches erklären, kann aber auch Zufall sein«, resümierte Linkohr, als sie in Konos Pizzeria den ersten Schluck Rotwein nahmen. Der junge Kriminalist hatte sich zum wiederholten Male mit dem Hinweis auf die viele Arbeit bei Jenny entschuldigt. Dass er keine Zeit hatte, war schließlich keine Lüge. Allerdings empfahl ihm sein Bauchgefühl, sich eher Kerstin
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