Blutsauger
Winterreifen des Golf nur mühsam einen Halt fanden. Kräftiger Wind blies unablässig den feinen Pulverschnee gegen die Windschutzscheibe – und bildete auf der Straße neue Verwehungen.
Kerstin beobachtete im Rückspiegel, dass weit hinter ihr Autoscheinwerfer die Nacht durchschnitten. Ganz so allein war sie also nicht. Oder das nachfolgende Auto würde nur das Gehöft ansteuern. Rechts an ihr zog die Einfahrt zum tief verschneiten Gelände des Naturfreundehauses Immenreute vorbei. Draußen war es sicher eisigkalt, dachte sie. Nach zwei engen Kurven folgte die Straße einer Stromleitung, deren Drähte dick von Raureif umklammert waren.
In der Ferne tauchten endlich Lichter auf. So wie es Mike geschildert hatte, musste es Kuchalb sein. Sie beschloss, nachher nicht mehr auf dieser Strecke zurückzufahren, sondern den Umweg über die Stadt Donzdorf in Kauf zu nehmen, die drunten im Tal lag, wohin die Straßenverbindung bei diesen winterlichen Verhältnissen vermutlich besser war.
Als sie den Ort erreichte, erkannte sie links die hell erleuchteten Gebäude des Hotels ›Kuchalber Stuben‹, dessen Architektur der ländlichen Umgebung angepasst war. Linkohr hatte ihr erzählt, dass es ein beliebtes Ziel für die Menschen aus dem Ballungsgebiet sei, die hier oben die Abgeschiedenheit und die Ruhe schätzten.
Kerstin fuhr im Schritttempo weiter und befürchtete, zwischen all dem aufgetürmten Schnee und den Zufahrten zu Scheunentoren keinen Parkplatz zu finden. Eigentlich bestand Kuchalb nur aus der Durchfahrtsstraße und einem links abzweigenden Weg. Dort, so hatte es ihr Linkohr auf dem Stadtplan von Donzdorf gezeigt, wozu Kuchalb gehörte, musste Frau von Willersbach irgendwo wohnen.
Kerstin fand einen winzigen Platz zwischen zwei Schneehaufen. Beim Aussteigen schlug ihr eisiger Wind entgegen – und sie bemerkte, dass sie vor einem Gasthaus stand, das sich Mutter Franzl nannte und das Linkohr als besonders urig hervorgehoben hatte. Für einen kurzen Augenblick staunte die junge Polizistin, dass es in dieser scheinbaren Einöde zwei weithin bekannte gastronomische Betriebe gab, dann jedoch stapfte sie durch den weichen Schnee zur anderen Straßenseite, wo sie an einem der sanierungsbedürftigen Gebäude die gesuchte Hausnummer entdeckte.
Im linken Augenwinkel flammten Scheinwerfer auf. Vermutlich hatte das nachfolgende Auto die Kuchalb erreicht.
Kerstin ging unterdessen zielstrebig zu der Haustür, an deren Klingelknopf v. Willersbach zu lesen stand. Kaum hatte sie ihn gedrückt, näherten sich hinter der ziemlich morschen und mit dickem Milchglas eingefassten Tür schnelle Schritte auf Steinboden. Kerstin rieb sich die kalten Hände und schlug mit den Schuhen auf, um den Schnee abzustoßen.
Ein Schlüssel wurde zweimal im Schloss gedreht, bis schließlich die Tür nach innen aufschwenkte und im fahlen Flurlicht eine große Frau erschien.
Kerstin wusste für einen Moment nicht, was sie sagen sollte.
Diese verdammte Kälte, dieser verdammte Schnee. Claus Humstett war mit seinen wenigen Habseligkeiten, mit denen er sich in Laichingen begnügt hatte, wieder in sein altes Bauernhaus nach Blaubeuren zurückgekehrt. Seit seine Frau ausgezogen war und er sich provisorisch neben seinem Labor auf der Alb eingerichtet hatte, wurde das halbwegs sanierte Gebäude am Stadtrand von Blaubeuren nur minimal beheizt. Während er seinen schwarzen BMW der Dreierserie in den Anbau fuhr, der früher als Scheune gedient hatte, überkam ihn dieses Gefühl von Kälte und Einsamkeit, das ihm nie zuvor so bewusst geworden war. Als Workaholic konnte er die privaten Probleme verdrängen. Doch nun, da sie ihm den Arbeitsmittelpunkt nach Gran Canaria verlegen wollten, tat sich plötzlich eine Leere auf. Er hoffte, dass sich dies bis zum Wochenende änderte, denn den Flug hatte er bereits gebucht. Jetzt musste er nur noch jemanden finden, der während seiner Abwesenheit das Haus betreute. Dafür kam ein Nachbar infrage, der dies bisher schon tat und den er für diese Dienste entlohnte.
Noch heute Abend wollte er mit ihm die Details besprechen.
Immerhin war völlig unklar, wie lange er sich auf den Kanaren aufhalten würde. Maronn jedenfalls, so hatten sie es gestern am Telefon besprochen, ging von mindestens zwei Jahren aus. Humstett, der sich die Laboratorien schon einige Male angesehen hatte, konnte sich inzwischen durchaus vorstellen, auf dieses Angebot einzugehen. Allerdings beunruhigte ihn, dass Maronn seit dem Vormittag nicht
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