Blutsauger
keine Schmerzen in Ihren hübschen Knien hätten.«
Sie schien auf derlei Reaktion gewartet zu haben. »Und dann wären Sie richtig böse?«
»Böse und sauer«, gab er zurück, um sofort wieder verständnisvoll, aber mit leicht ironischem Unterton einzulenken: »Wahrscheinlich leiden Sie unter Höllenschmerzen.«
»Sie glauben mir nicht?« Ihre Stimme hatte etwas erotisch Provozierendes im Klang.
»Ich nehme meine Patienten immer ernst.«
»Auch die weiblichen, wenn sie …«, die Frau zögerte kurz, »… wenn sie scharfe Katzen sind?« Sie fuhr sich mit der Zunge über die schwarz geschminkten Lippen.
Salbaisi sah zu Brigitte hinüber. Er wusste nicht so recht, wie die Lage einzuschätzen war. Einerseits hätte er das spannende Spiel gern ein bisschen weiter getrieben, andererseits war er im Dienst und draußen warteten mindestens fünf Patienten.
Nach zwei, drei Sekunden des Schweigens, während denen Brigitte vornehme Zurückhaltung übte, wartete die Patientin mit einer neuen Provokation auf: »Und wenn es Gicht ist. Ja, es könnte doch Gicht sein. Das kann man in allen Gliedern kriegen, oder etwa nicht, Herr Doktor?«
»In allen nicht«, entgegnete er betont geschäftlich und verschränkte die Arme vor seinem weißen Arztkittel. »Nur dort, wo es Knochen hat.«
»Also auch im Knie.«
»Auch im Knie, das ist korrekt, gnädige Frau.«
Brigitte wurde sichtlich unruhig und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Uhr. Salbaisi überlegte, wie er die Patientin auf dezente Weise loswerden konnte. »Hatten Sie denn schon mal einen Gichtanfall?«, hakte er nach, um Zeit für eine Lösung zu finden.
»Nicht, dass ich wüsste. Aber, mal ehrlich, Herr Doktor, Gicht darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
Salbaisi ging um den Stuhl herum. »Wenn’s Gicht wäre, wäre Ihr Harnsäurewert erhöht – und dies kann Ihr Hausarzt feststellen.«
Sie wartete, bis er wieder in ihr Blickfeld kam, und drehte den Kopf zu ihm. »Kann Gicht nicht zu Versteifungen führen?«
Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde und Salbaisi war es, als habe ihm jemand einen Stich versetzt. Er drehte sich weg, blieb hinter ihrem Stuhl stehen und entschied: »Wir machen vorsorglich eine Röntgenaufnahme.« Salbaisi eilte zu seinem Schreibtisch und füllte das entsprechende Formular aus.
Für Brigitte war es wie eine Erlösung aus minutenlanger Anspannung. Endlich hatte der Doktor wieder zu sich gefunden. Sie bat die Frau, sich von dem Stuhl zu erheben, und erklärte ihr mit einer Handbewegung zur zweiten Tür: »Gehen Sie hier zum Röntgen rüber. Rechts raus und warten, bis Sie aufgerufen werden.«
Die Patientin strich sich das viel zu kurze Katzenkleid zurecht, nahm wieder ihren Mantel und ihre Handtasche in den Arm und ließ sich von Salbaisi den Röntgenschein geben.
»Es kann ein paar Minuten dauern«, gab er ihr zu verstehen. »Nach dem Röntgen sehen wir uns wieder. Ich glaub aber nicht, dass es eine ernsthafte Verletzung ist.«
»Danke schön, Herr Doktor«, sagte die Katzenfrau, die gut einen Kopf größer war als Salbaisi. Sie ging zur Tür und verschwand in Richtung der Wartezone zum Röntgen.
»Die hat Sie ganz schön ins Schwitzen gebracht«, grinste Brigitte, nachdem die Tür wieder geschlossen war.
Salbaisi antwortete mit einem sympathischen Lächeln und wusch sich die Hände. »Was hätt ich tun sollen? Sie einfach rausschmeißen?«, fragte er mit sanfter Stimme. »Ein Gespräch hilft manchmal mehr als eine Salbe.«
»Na ja, um ehrlich zu sein …« Brigitte überlegte, wie sie’s dezent formulieren sollte. »Die hat ganz anderes im Sinn.« Der gereizte Unterton ließ vermuten, dass sie in diesem Fall die unendliche Geduld des Arztes für völlig unangebracht hielt. »Die wollte uns bloß die Zeit stehlen – warum auch immer.«
Salbaisi besah sich wieder im Spiegel. Warum auch immer, dachte er. Er kannte Brigitte lange genug, um zu wissen, dass sich hinter scheinbar belanglosen Bemerkungen stets ein ernster Grund verbarg.
12
Der Uniformierte kämpfte mit dem Schlaf. Er unterdrückte ein Gähnen und blinzelte zur Uhr, die in der Mitte der beiden Schreibtische zwischen ungeordneten Aktenstapeln eingezwängt war. Kurz vor halb vier. Die Nacht zog sich wie Gummi dahin. Polizeioberkommissar Harry Stenzler nahm einen Schluck heißen Kaffee und versuchte, seine handschriftlichen Aufzeichnungen zu entziffern, die er an der Unfallstelle gemacht hatte. Vor ihm lagen die Papiere des
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