Blutsauger
Verunglückten. Personalausweis und Führerschein waren auf denselben Namen ausgestellt. Aber dass es sich bei dem Schwerverletzten um Dr. Johannes Fallheimer handeln würde, hatte bereits ein Arzt in der Klinik bestätigt. Demnach wohnte er in Scharenstetten, einer schmucken Gemeinde auf der Hochfläche der Schwäbischen Alb, gerade mal 20 Kilometer entfernt. Dort hatte er vor wenigen Jahren ein Haus gebaut, das er seit der Scheidung von seiner Frau allein bewohnte. Über andere Angehörige hatte Stenzler nichts in Erfahrung bringen können. Es gab also niemanden, den man hätte benachrichtigen sollen. Immer häufiger kam dies vor, dachte der Streifenpolizist. Die Gesellschaft schien stets einsamer zu werden, zumindest, was die einheimische Bevölkerung anbelangte. Dann begann er, die Daten mühevoll mit zwei Fingern in die Tastatur des Computers zu hämmern.
Mit den Details würden sich die Kollegen der Unfallfluchtermittlungsgruppe auseinandersetzen müssen. Keine leichte Aufgabe, überlegte der Beamte. Immerhin war auf der Straße nichts zu entdecken gewesen, was auf ein Fahrzeug hätte schließen lassen. Vielleicht gab es an der Kleidung des Verletzten winzigste Lackspuren des Autos. Heutzutage war es kein Problem, über eine Farbanalyse den Fahrzeugtyp ausfindig machen zu können – manchmal sogar bis hin zum Baujahr. Außerdem musste der Aufprall des Fußgängers am Auto eine Beschädigung hinterlassen haben. Allerdings dürfte die Delle im Blech nicht allzu auffällig sein.
Der Beamte trank seine Kaffeetasse leer und griff zu einer Tragetasche, die er neben sich auf den Boden gestellt hatte. Sie enthielt einige Utensilien, die sie in Fallheimers Kleidung gefunden hatten: Geldbeutel, Handy, Schlüsselbund und ein kleiner Taschenkalender. Stenzler staunte, dass sich der Arzt noch keines dieser Smartphones bediente, die sowohl Handy als auch Minicomputer waren. Obwohl er sich von den Eintragungen in dem dünnen und kleinformatigen Kalender nichts versprach, ließ er die goldbesetzten Blätter schnell von hinten nach vorn durch seine Finger gleiten. Er entdeckte einige Seiten, die mit Adressen und Telefonnummern beschrieben waren, womit er sich jetzt nicht auseinandersetzen wollte. Schließlich blätterte er zu den Februar-Wochen, um zu sehen, ob es zum gestrigen Tag irgendwelche Eintragungen gab. Tatsächlich war mit Kugelschreiber etwas notiert worden, das er nicht auf Anhieb entziffern konnte. Eigentlich interessierte es ihn auch nicht. Denn was der Verletzte gestern getan hatte, war für die Ermittlung der Unfallursache ziemlich unerheblich, dachte Stenzler. Routinemäßig würde dem Opfer in der Klinik eine Blutprobe entnommen werden, um eine etwaige Alkoholisierung festzustellen. Sollte man den Unfallflüchtigen ermitteln und vor Gericht bringen können, spielte dieser Umstand für den Verteidiger gewiss eine wichtige Rolle – auch wenn damit das Überfahren eines Fußgängers natürlich nicht zu rechtfertigen war, geschweige denn die anschließende Flucht vom Ort des Geschehens.
Stenzler unterdrückte zum wiederholten Male ein Gähnen, während er die wenigen Buchstaben in der gestrigen Tagesspalte des Kalenders zu lesen versuchte. Das zweite Wort erschien ihm, als heiße es anrufen. Doch beim ersten war er sich nicht sicher. Logischerweise musste es sich um einen Namen handeln, jemanden also, den Fallheimer anrufen wollte. Es begann mit einem ›H ‹ und endete in einigen Schnörkeln. Es konnte Helmut, Harald oder Hermann heißen.
Stenzler klappte das Büchlein zu und legte es zu den übrigen Utensilien. Falls dies tatsächlich wichtig war, konnten sich am Vormittag die Kollegen der Unfallermittlungsgruppe damit befassen. Er war viel zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.
Ambulanzschwester Brigitte bewunderte die Geduld und Gelassenheit, mit der Salbaisi auch jetzt noch jedem Patienten das Gefühl gab, nur für ihn da zu sein. Wieder war es eine Frau, die über Schmerzen klagte – diesmal im rechten Sprunggelenk. Er setzte sein charmantes Lächeln auf und bot ihr den Platz auf dem Behandlungsstuhl an. Dass sie 33 war, Ute Fronzek hieß und als Bibliothekarin in einer Gemeindebücherei auf der Alb arbeitete, hatte er bereits den Anmeldedaten entnommen.
»Wie ist das passiert?«, fragte er und ging in die Hocke, um den Knöchel zu betasten. Sie zog dazu das rechte Hosenbein ihrer engen Jeans bis zu den Waden nach oben.
»Hab wohl ein bisschen zu wild getanzt heut Nacht«, lächelte
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