Blutsauger
Rede sein«, blieb Watzlaff hartnäckig. »Wir haben’s immerhin mit einem Arzt zu tun, der gerade von seinem Spätdienst gekommen ist und keinen Tropfen Alkohol getrunken hat.«
»Ach? Habt ihr die Werte schon?«, stichelte Schmittke. Natürlich wusste er, dass der Blutalkoholgehalt erst in ein paar Tagen zu ermitteln war und man den Schwerverletzten gewiss nicht hatte blasen lassen können.
Ihr Kopf brummte und es war ihr, als seien ihre Gefühle eine Mischung aus Achter- und Geisterbahn. Brunhilde Brugger sah sich in ihrem Badezimmerspiegel einem aschfahlen Gesicht gegenüber, auf dem die Schminke verlaufen war. Hatte sie das Telefonat mit ihrem Mann tatsächlich geführt – oder war dies ein Albtraum gewesen? Der gestrige Abend hatte so vielversprechend angefangen, denn sie war endlich mal wieder frei gewesen. Frei von Zwängen und dem Alltagstrott. Dass ein paar alte Freundinnen Zeit gehabt hatten, mit ihr diese Faschingsnacht zu genießen, empfand sie als Glücksfall. Wie lange war sie nicht mehr aus gewesen? Wie lange war das her? Sollte doch Elmar seine Auszeit nehmen, ihr jedenfalls war bewusst geworden, weshalb so viele Ehen auseinandergingen. Auch zwei ihrer Freundinnen, mit denen sie bis lange nach Mitternacht zusammen war, hatten sich in letzter Zeit von ihren Männern getrennt. Mochte auch dies ein Zeichen der zerfallenden Gesellschaft sein, der nicht mehr akzeptierten Werte vergangener Zeiten, so bescherte es den Menschen zumindest ein Gefühl der Freiheit, mit dem sie heutzutage weitaus mehr anfangen konnten als ihre Mütter und Großmütter. Mit dem Werteverfall waren alle gesellschaftlichen Barrieren und Tabus gefallen. Es gab keine zementierten Spielregeln mehr, nach denen das Leben vergangener Jahrzehnte ablief. Brunhilde Brugger erlebte dies tagtäglich mit ihren Studenten, die alles infrage stellten, was auch nur im Geringsten traditionellen Mief an sich haben konnte. Die Professorin, die an der Ulmer Universität Physik lehrte, hatte während ihrer eigenen Studienzeit geglaubt, den Geist der vorausgegangenen 68er aufnehmen zu können. Doch was nun im Gange war, nicht nur an der Uni, sondern in allen Bereichen der Jugendarbeit, das überschritt alles, was einst als revolutionär gegolten hatte. Mit einem Unterschied: Heute empfand man dies nicht als revolutionär, sondern nahm jeglichen Wandel hin, mochte er diese Gesellschaft noch so sehr verändern. Allerdings, so sagte ihr eine innere Stimme, als sie die Fältchen um ihre Augen kritisch betrachtete, hatte es dieses Land dringend nötig, umgewälzt zu werden. Jedoch hatten die, die dazu imstande wären, ihre eigene Karriere im Fokus, denn was zählte, waren allein das große Geld und ein Job, von dem aus man die unteren Schichten kleinhalten und arbeiten lassen konnte, natürlich zu Minimallöhnen. Wer nicht wenigstens das Abitur hatte oder einen Abschluss an der Fachhochschule nachweisen konnte, war beinahe automatisch auf der Straße der Verlierer.
Mehr und mehr war Brunhilde Brugger in den vergangenen Jahren bewusst geworden, dass ein Kind aus sogenannten normalen Verhältnissen kaum eine Chance hatte, es zur Fachhochschulreife zu bringen. Das Aussortieren begann schließlich bereits in den ersten Grundschulklassen, wo Aufgaben gestellt wurden, die Kinder nur im Zusammenwirken mit Eltern oder Großeltern sachgerecht erfüllen konnten. Ihr fiel spontan ihre Nichte ein, die bereits als Zweitklässlerin ihr Lieblingsbuch samt Autor hatte vorstellen müssen. Kinder, die aus Familien kamen, in denen keine Bücher gelesen wurden, oder, was noch wahrscheinlicher war, beide Elternteile einem oder gar mehreren Jobs nachgingen, um sich finanziell über Wasser zu halten, waren derart auf sich allein gestellt, dass sie diese Aufgaben niemals bewältigen konnten. Hinzu kam, dass das Bildungsniveau in vielen Grund- und Hauptschulen dem durchschnittlichen Intelligenzquotienten und wertelosen Verhalten der Schüler angepasst wurde, um – insbesondere in Klassen mit vielen Migranten – wenigstens der Mehrheit von ihnen den Abschluss überhaupt zu ermöglichen. Die Folge war – das hatte Brunhilde Brugger erst kürzlich in der Zeitung gelesen –, dass viele Ausbildungsbetriebe darüber klagten, ein Großteil der Hauptschulabgänger sei überhaupt nicht ausbildungsfähig. So gesehen, waren die Studenten, die zu ihren Vorlesungen kamen, bereits die Ausgesiebten – oder sollte man besser sagen: die auserwählte Elite.
Aber verdammt noch
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