Blutsauger
einen gediegenen Eindruck und war nicht umgeben von jenen Hotelkästen, in denen Nacht für Nacht eine Diskothek dröhnte. Es schien direkt an den bekannten Dünen zu liegen, wo man ziemlich ungestört stundenlang spazieren gehen oder versteckt hinter Sandhügeln liegen konnte, wo spärlicher Bewuchs seine mattgrünen Blätter schützend über das hielt, was niemand zu sehen brauchte.
Als sie in dem Airbus ihre Reihe und ihre Plätze gefunden hatten, nahmen sie erleichtert zur Kenntnis, dass neben ihnen auf Platz C eine ältere Dame gebucht war, die vermutlich keinerlei zweifelhafte Fragen stellen würde.
Nachdem Melanie ihren leichten Wintermantel im Gepäckfach über den Sitzen verstaut hatte, rutschte ihr sommerlich anmutendes Kleidchen fast bis zum Po hoch. Sie streifte es verlegen glatt und zog es so weit wie möglich Richtung Knie, bevor sie sich an der Dame von Platz C vorbeizwängte und in die Mitte setzte.
»Wenn man nicht wüsste, wohin der Flieger geht, würde man uns für verrückt halten«, grinste Caroline, die sich in Erwartung kanarischer Temperaturen ebenso luftig angezogen hatte. Sie wollten schließlich am sonnigen Ziel nicht in winterlichen Klamotten Elmar gegenüberstehen. Sie hatten verabredet, sich sofort telefonisch zu melden, wenn sie im RIU Palace Maspalomas angekommen waren. Bis dahin waren allerdings noch über vier Stunden Zeit, während derer sie südwestlich düsten und eine Stunde gewannen.
Der Airbus rollte ohne Verzögerung zur Startposition, während auf den Monitoren über den Sitzen eine animierte Filmfigur die üblichen Notfallprozeduren erläuterte, die aber allenfalls ängstliche Erstflieger verfolgten.
Der Silbervogel rollte endlos lange parallel zur Autobahn in Richtung Anschlussstelle Esslingen, um dann auf die Startbahn 26 einzudrehen. 26, das hatte Caroline mal irgendwo gelesen, stand nicht etwa für die 26. Startbahn, sondern für die Ausrichtung der Startbahn – in diesem Falle 260 Grad, also ziemlich genau in westliche Richtung – , in welcher die Flieger den Boden unter dem Fahrwerk verloren.
Durch die Kabinenlautsprecher murmelte eine Männerstimme etwas, das sich nach »Cross-Check« oder Ähnlichem anhörte – und wenig später heulten die Turbinen des Triebwerks und pressten die Luft nach hinten, um das viele Tonnen schwere Luftfahrzeug zu beschleunigen. Auf den Monitoren erschien bereits die Europakarte, auf der Stuttgart besonders hervorgehoben wurde.
Die Beschleunigungskräfte pressten die Passagiere in die Lehnen. Wer einen Fensterplatz hatte, sah die Markierungen und Begrenzungslichter der Startbahn vorbeihuschen und in weniger als einer Minute wurde der Airliner von einer unsichtbaren, aber unbändigen Kraft nach oben gezogen – zuerst das Vorderteil, dann, in eine Schieflage übergehend, verlor die gesamte Maschine ihre Bodenhaftung und erweckte den faszinierenden Eindruck, mit einem Mal schwerelos geworden zu sein. Die ehernen Gesetze der Aerodynamik machten’s möglich, versuchte sich Caroline in solchen Momenten immer wieder vor Augen zu führen. Ein Flugzeug flog aufgrund eines physikalischen Gesetzes. Sog und Druck, von den gewölbten Tragflächen im Luftstrom erzeugt, waren das ganze Geheimnis der Fliegerei.
Erste Böen rüttelten an der Außenhaut, während die Tragflächen die Wolken berührten und schließlich die ganze Maschine in dieses undurchdringliche Grau und Weiß eintauchte. Das Vertrauen in die Technik musste in solchen Situationen grenzenlos sein, überlegte Caroline am Fenster. Irgendwo saßen jetzt Lotsen an irgendwelchen Monitoren und verfolgten dieses Flugzeug als grünlichen oder weißen Punkt. Obwohl sie nicht ängstlich war und sogar gerne flog, überkam sie in solchen Momenten immer ein seltsames Gefühl. Ihr kamen Formulierungen in den Sinn, die meist nach Abstürzen gebraucht wurden – wie etwa: Das Flugzeug sei plötzlich vom Radarschirm verschwunden. Andererseits, so beruhigte sich Caroline, waren Flugunfälle in Mitteleuropa eine äußerste Seltenheit – und dies, obwohl sich hier auf engstem Raum stark frequentierte Flughäfen befanden, wie etwa Frankfurt, Paris, London, Rom oder Berlin.
»Sag mal«, hörte sie die Stimme von Melanie neben sich, sodass sie ihren Kopf vom Fenster wandte. »Was glaubst du, was in der Klinik los wäre, wenn die Maschine abstürzen würde?«
Caroline wusste mit dieser Bemerkung nichts anzufangen. Was hatte ihre Freundin bewogen, dies ausgerechnet in diesem Augenblick zu
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