Blutschnee
eigenes Verhalten wie das von Nate – verwirrte ihn noch immer. Er schlüpfte in seinen dicken Motorschlittenanzug und schloss Ärmel und Hosenbeine mit Klettverschlüssen.
»Nate, Sie müssen Spud ins Gefängnis bringen, damit wir wissen, wo er zu finden ist. Ich habe nicht die Zeit, ihn dort abzuliefern.«
Nate wollte widersprechen, doch Joe schnitt ihm das Wort ab. »Schnappen Sie sich Portenson und erzählen Sie ihm alles. Vielleicht sieht er eine Möglichkeit, einzugreifen. Vielleicht erreicht er seinen Vorgesetzten. Oder er kann Strickland und Munker zur Vernunft bringen.«
»Ich bezweifle, dass Sie wissen, womit Sie es hier zu tun haben«, wandte Nate ein.
Joe antwortete nicht, sondern setzte seinen schwarzen Helm auf.
»Keine Sorge, Joe. Ich bring ihn ins Gefängnis. Und ich rufe Marybeth an.«
»Gut«, sagte Joe und ließ den Schlitten an. »Danke. Sie haben mir bereits mehr als genug geholfen.«
Nate salutierte und lächelte schief. Joe fragte sich, ob Spud Cargill es leidlich unversehrt ins Gefängnis schaffen würde. Doch eigentlich war ihm das, wie er sich eingestehen musste, im Moment ziemlich egal.
Über ungeräumte Straßen ohne jeglichen Verkehr jagte Joe Pickett auf dem Schlitten durch Saddlestring und in die Berge. Trotz des Helms mit seiner Plexiglasscheibe ließen der kalte Wind und der wie Nadeln stechende Schnee seine Gesichtshaut brennen. Cargill hatte den Windschutz aus Plastik zerschossen, und der Riss in der Haube des Schlittens beunruhigte Joe, obwohl nichts darauf hindeutete, dass es auch den Motor erwischt hatte. Der Tank war voll, und Joe ging davon aus, damit bis zum Lager zu gelangen. Außerdem hatte er Spuds Brieftasche mit Führerschein und sein Ohr dabei.
Die Schneeraupen hatten eine Piste in die Berge gebahnt, auf der er rasch vorankam. Bäume glitten links und rechts vorbei. Er sah kurz auf den Tacho und stellte fest, dass er gut hundertzehn Stundenkilometer schnell war. Sogar im Sommer galt hier im Wald eine Höchstgeschwindigkeit von siebzig.
Hilf mir, sie zu retten, betete er.
Wie müde er war!
Das helle, wütende Jaulen des Motors passte zu seinem Muskelkater, der gebrochenen Rippe und dem pochenden Kopfweh. Er hatte seit zwanzig Stunden nicht geschlafen und raste durch wirbelnde, unberechenbare Halluzinationen, die sich vor ihm durchs Halbdunkel woben. Mehrmals wollte er um eine Kurve lenken und merkte erst im letzten Moment, dass die Straße einen ganz anderen Verlauf nahm.
Der eisige Wind ließ ihm die Augen tränen, und er sah nur verschwommen, doch seine Gedanken rasten.
Er dachte an die Worte auf Cobbs Monitor: Sie haben uns umzingelt. Hilf uns, Liebster. Liebster? Cobb hatte gesagt, er bewundere Brockius, aber …
Joe verwarf den Gedanken. Er glaubte nicht, dass es darauf gegenwärtig ankam. Später vielleicht, wenn April in Sicherheit wäre. Im Moment war dafür keine Zeit.
Könnte ich doch eine Stunde zurückkaufen – egal, zu welchem Preis!
Spuds Führerschein dürfte reichen, dachte er. Das Ohr würde sie auf jeden Fall überzeugen – so ungewöhnlich es als Beweis auch war. Selbst wenn Strickland und Munker nicht klein beigäben, würde Sheriff Barnum doch wohl zum Rückzug blasen oder den Angriff wenigstens verschieben, oder? Nicht, weil ihm die Souveränen auch nur das Geringste bedeuteten, sondern weil er einen politischen Riecher besaß und im nächsten Jahr seine Wiederwahl als Sheriff anstand. Barnum hatte in das Ganze nicht annähernd so viel investiert wie Strickland und Munker; er konnte auf die Bremse treten, konnte den Einsatz daran scheitern lassen, dass er seine Leute abzog, und würde dabei sogar eine gute Figur machen. Barnum wollte schließlich immer gut aussehen. Und Robey! Vielleicht ist er da oben, hoffte Joe. Robey konnte den Angriff
im Handumdrehen zum Stehen bringen und Strickland und Munker mit juristischen Folgen drohen, falls sie nicht klein beigaben.
Er hatte nicht weiter über das nachgedacht, was Nate ihm über Strickland und Munker erzählt hatte, doch ihm war klar, dass die beiden Unglück bedeuteten. Die Vorstellung, Melinda Strickland habe – wie von Portenson beschrieben – in Decken eingemummt dagesessen und mit ihrem Hund geschmust, während sie ihren Lakaien befahl, in die Berge aufzubrechen, erfüllte ihn mit kalter Wut.
Weil er nicht genau achtgab, hätte er beinahe eine Kurve verpasst und wäre in einer Tiefschneemulde gelandet. Doch er riss im letzten Moment den Lenker herum und blieb auf dem
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