Blutschuld
die Waffe fester.
Er hatte sie hintergangen, die Mission verraten. Er war ein Ketzer genau wie die Hexe, der zu helfen er sich entschieden hatte.
Silas’ Blick ruhte auf ihr.
Naomi schluckte schwer. In den Tiefen seiner rauchig grünen Augen, mit denen er sie unverwandt anblickte, sah sie den Jungen, der er vor Jahren gewesen war, ein stämmiges Kerlchen, der ihren Hintern aus dem Baum geklaubt hatte, als sie versucht hatte, aus dem Waisenhaus fortzulaufen. Damals war sie neun gewesen.
Sie betrachtete seinen Mund, kannte – sie hätte nicht hinsehen müssen – den Schwung seiner Lippen. Vor Jahren war dieserMund schnell bereit gewesen, zu lachen, zu lächeln. Ehe die Härte des Missionsdienstes ihm diese Bereitschaft aus dem Leib geprügelt hatte.
Genau wie ihr.
Silas kam näher, bedächtig jeder Schritt. »Ich bin nicht dein Feind«, erklärte er ruhig, »das war ich nie.« Er schwieg. Dann ein schiefes Lächeln. »Meistens zumindest.«
Naomi hob das Kinn. »Keine Bewegung, Mann!«
»Du wirst mich nicht erschießen, Nai.« Langsam streckte er die Hand aus, mit derselben Bedächtigkeit, mit der er sich Naomi genähert hatte. Seine Finger legten sich um den Lauf des Colts. »Wenn du es könntest, hättest du’s längst getan. Ich bin nicht gekommen, um dich anzugreifen oder mit dir zu streiten.«
Falls er versucht hätte, ihr die Waffe zu entringen, wenn er auch nur an dem Colt geruckt hätte … Naomi hatte keine Ahnung, ob sie wirklich den Finger vom Abzug genommen hätte. Aber Silas tat nichts dergleichen. Er übte nur Druck auf den Lauf aus, bis die Mündung in Richtung Boden zeigte, bis die Waffe harmlos zwischen seine Füße zielte.
Naomis Arme zuckten.
»Ich bin nicht tot, Naomi.«
Ein Schwall Tränen riss ihr beinahe den Boden unter den Füßen weg. Sie nahm sich zusammen, streckte den Rücken durch und warf sich mit ganzem Gewicht Silas entgegen. Er fing sie auf, taumelte rückwärts.
»Herrgott noch eins!« Reine Panik. Vor Schmerz keuchte er auf, als Naomi die Faust in seinen ausmodulierten Schultermuskel versenkte. Sie ließ die Waffe fallen. Ihre Fäuste trommelten auf seinen Bauch ein, wo Silas auf die Treffer vorbereitet war und sie mit angespannten Muskeln erwartete. Auf seine Brust. Sie schlug auf ihn ein wie auf einen Sandsack, schluchzte dabei unzusammenhängendes Zeug, das ihre Wut ihr diktierte. Ihre Erleichterung. Ihre Enttäuschung. Sie schlug auf ihn ein, auf diese solideMauer aus Muskeln und Fleisch. Auf einen Hexen liebenden Ketzer. Aber es war nicht genug.
Silas nahm die meisten Treffer stoisch. Er wandte das Gesicht ab. Jede harte Linie in seinem Gesicht war Beweis seines Bedauerns, Versuch einer Entschuldigung – und der männerspezifischen Unfähigkeit, mit einer außer Rand und Band geratenen Frau umzugehen. Naomi packte ihn vorn am T-Shirt, zog ihn zu sich herunter und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.
Silas riss die Augen auf.
Kniff sie misstrauisch zusammen, aber da rammte Naomi ihm bereits das Knie in die Weichteile. Er war einfach nicht schnell genug. Weiches Fleisch verlor gegen harten Knochen.
Silas klappte zusammen.
Naomi ließ ihn los. Atemlos ging sie in die Knie und versuchte Atmung und Herzschlag wieder auf normale Frequenz zu bringen. Sie sah, wie Silas auf dem Boden aufschlug. Er krümmte sich um seine Eier zusammen, mit hochgezogenen Beinen lag er da, ein Häufchen männliches Elend. Naomi wusste, dass seine Männlichkeit in nächster Zeit die Einsatzbereitschaft wehleidig verweigern würden. Geschah ihm recht.
»Scheiße!«, fluchte er unter Ächzen und Stöhnen. »Warum?«
»Du giltst als tot!«, spie sie ihm entgegen, anklagend, jedes Wort ein Peitschenknall. »Warum konntest du nicht einfach tot bleiben?«
Er stöhnte. »Bin doch so gut wie tot.«
»Verflucht, bist du nicht, nicht mehr!«
»Ich dachte«, brachte er mühsam heraus und knirschte mit den Zähnen vor Schmerz, »deswegen hast du mir den Kuss gegeben.«
»Träum weiter.« Naomi zog die Nase hoch und wischte sich ungeduldig über die Augen. »Denkst du, zum Teufel, auch noch mit was anderem als deinem Schwanz, Smith? Du kannst doch nicht auf einen Plausch vorbeikommen, unter Beweis stellen, dass du quicklebendig bist, und glauben, du könntest dann einfach sowieder davonspazieren! Ich bin immer noch Missionarin – auch wenn du nicht mehr bei der Truppe bist!«
Ächzend und unter großen Mühen stemmte sich Silas zurück auf die Füße. Steif in den Bewegungen
Weitere Kostenlose Bücher