Blutschuld
sie zwischen zusammengebissenen Zähnen mühsam hervor. »Ich hasse dieses Ding, verflucht! Hier gibt es Geheimtüren in den Scheißwänden.«
»Hat ein Gast gerade eine benutzt?«
»Nein.« Sie schwenkte das Fernglas zurück auf die Frau und den Hofstaat aus Zeitlos -Personal, der sie begleitete. »Wahrscheinlich hat der neue Gast noch nicht einmal was davon mitbekommen, dass eines der zahlreichen Helferlein die Fliege gemacht hat. Ich zieh dann mal los und versuche, den schlüpfrigen kleinen Kerl aufzustöbern. Mal sehen, was der so alles zu berichten weiß.«
»Klar, mach das«, bestätigte Jonas. »Aber sei vorsichtig.«
Siebzehn Stockwerke unterhalb von Naomis Suite nahm der neue Gast die Sonnenbrille ab und ließ diese in ihrer Handtasche verschwinden. Dann wandte die Frau sich mit einem Megawatt-Lächeln an die Empfangsdame.
»Besorg mir bloß diese Baupläne, bevor … o mein Gott!« Naomi versagte die Stimme.
Das Licht aus der Lobby fing sich in dem weißen Schal der Frau, wurde von ihm reflektiert und gab dem Gesicht des späten Gastes liebevoll Kontur. Naomi verriss das Fernglas. Nur weg damit von diesem Gesicht!
»Naomi?« Jonas’ Stimme in ihrem Ohr, der Tonfall war angespannt. »Naomi, was ist los? Was geht da vor?«
»Ich …« Die Lungen wollten ihr den Dienst versagen. Als presse ein Schraubstock ihren Brustkorb zusammen.
»Naomi!«
Scheiße! Verfluchte Scheiße, sie bekam keine Luft! »Ich melde mich wegen der Waffe«, presste sie hervor. Sie legte auf, schnitt Jonas mitten in der Frage das Wort ab. Gleichzeitig versuchte sie verzweifelt, Luft in ihre Lungen zu pumpen. Zitternd hob sie die Hand mit dem Fernglas.
Das warme Licht aus der Lobby, pures Gold, schrumpfte zu einem schmalen Lichtstreifen, als sich die Flügeltüren hinter dem letzten Mann aus Abigail Ishikawas Gefolge schlossen.
Auf der Matratze hinter Naomi vibrierte das Com-Gerät, als wolle es vom Bett springen. Sie ignorierte Jonas’ Versuch, sie zu erreichen. Sie riss sich den Ohrstecker aus dem Ohr und schleuderte ihn auf die Tagesdecke, die zerwühlt am Fußende des Bettes lag. Zitternd, jeden Muskel bis zum Zerreißen gespannt, rutschte Naomi an der Wand unterhalb des Schlafzimmerfensters zu Boden und rang nach Luft. Da hockte sie, zusammengesunken, und zog die Knie an die Brust.
Sie war hier. Abigail Ishikawa, leibhaftig, in Fleisch und Blut. Vierundzwanzig Jahre nichts anderes als eine fest unter Verschluss gehaltene Erinnerung, und jetzt war Naomis Mutter ins Zeitlos gekommen. Wo sie, Naomi, war.
Aber diese Mutter kam nicht zu ihr, ihrer Tochter.
Sie war nie zu ihr gekommen. Niemals.
Gott allein wusste, welchen Namen diese Frau momentan benutzte.
Die Lichter der nächtlichen Stadt sickerten durch die Scheiben des Schlafzimmerfensters – Lichtfinger, die nach den unordentlichen Falten der Tagesdecke griffen, nach der Unordnung aus Kleidungsstücken und modischem Schnickschnack auf dem Boden.
Naomi war blind für all das. Für all das hier, jetzt, wo ihre Augen brannten vor blindem Zorn, vor Erinnerungen, die sie nie hatte behalten wollen.
Ein Feuer, das lustig in einem mit blank poliertem Mahagoni eingefassten Kamin prasselte. Ein Sims, den nicht ein einziges Foto zierte. Daran erinnerte sich Naomi genau. Es gab keine Fotos einer glücklichen Kindheit. Keine Beweise dafür, dass die Familie, in die sie geboren worden war, je existiert hatte.
Der rote Feuerschein erhellte jede Handbreit des gemütlichen, von Bücherwänden gesäumten Arbeitszimmers. Katsu Ishikawa war kein belesener Mann, aber die Bücher umgaben ihn mit der Aura von Kultiviertheit. Es machte ihm Freude, das Alter der Worte zu spüren, die in diesen Büchern standen. Er wusste, dass diese Bücher die Kunde von Zivilisationen bewahrten, die längst untergegangen waren.
In den Augen einer Fünfjährigen war Katsu Ishikawa der klügste Mensch auf der ganzen Welt. Der einzige Mensch, der sie wahrhaftig liebte. Der sie verstand.
Der einzige von zwei Elternteilen, der sie gewollt hatte.
Und die Frau, die Naomi Ishikawa nicht gewollt hatte, hatte gerade die Lobby von New Seattles nobelstem Spa und Schönheitstempel betreten, dem führenden Haus am Platz.
Naomi presste die Faust gegen den Mund, um die aufsteigende Welle aus schierer Panik niederzukämpfen. Mühsam sog sie Luft durch die Nase, starrte in die Dunkelheit des Schlafzimmers, das so gar nicht mit dem Penthouse von ehedem vergleichbar war.
Es spielte keinerlei Rolle.
Naomi
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