Blutschuld
ich dennoch zu behaupten, dass du weißt, was ein Fernglas ist.«
Naomi öffnete das Etui und runzelte die Stirn. »Das Ding ist ja winzig.«
»Man kann es auf Tag- oder Nachtsicht einstellen«, gab Jonas zurück, »und es passt trotzdem noch in jede Clutch.«
»Klatsch? Was soll das denn wieder sein?«
»Herrgott, Nai, probier’s einfach aus!«
Naomi hastete zum Fenster zurück und betete darum, nicht schon zu spät zu sein. Als sie das kleine Fernglas vor die Augen hob, veränderte sich die Welt schlagartig: Alles war glasklar und messerscharf zu sehen. »Meine Fresse!«
»Großartig, nicht wahr?«
Naomi konnte es nicht verhindern: Sie grinste über das ganze Gesicht, als sie jedes noch so ferne Detail tief unter sich auszumachen vermochte. Eine Überfülle an optischen Signalen, dieaufflammten; scharf umrissene Konturen in Grün, die jedes identifizierbare Objekt umgaben, während Naomi von einem zum anderen Zielobjekt wechselte und in Augenschein nahm. Am unteren Rand des Sichtfelds lief ein Textband entlang. Jedes anvisierte Ziel wurde von der Elektronik des Fernglases fein säuberlich katalogisiert.
»Die Signalverarbeitung ist natürlich sehr eingeschränkt, aber der eingebaute Chip wird die meisten erfassten Objekte identifizieren können«, erklärte Jonas selbstgefällig. »Na, Zuckerschnute, wer hat dich zum Knuddeln gern?«
»Jeder.«
Jonas schnaubte, dass es in Naomis Ohrstecker überlaut widerhallte. Währenddessen peilte sie mit dem praktischen kleinen Ding von Fernglas das Eingangsniveau unter sich an. Die Aufzugtüren öffneten sich, gaben die gesamte Eingangsbreite der Kabine frei, als sie zurückglitten.
»Was siehst du?«
Naomis breites Grinsen verschwand augenblicklich. Eine schlanke Gestalt trat aus dem Aufzug, über jeder Schulter eine schwere, große Tasche.
»Naomi?«
»Den Liftboy«, sagte sie gedehnt. »Netter Junge. Er hat Gepäck dabei.«
Jonas schnalzte mit der Zunge. »Klingt nach einem spät anreisenden Gast.«
»Sieht ganz danach aus, ja.« Naomi beobachtete weiter, hielt das Fernglas mit einer Hand, mit dem Zeigefinger der anderen korrigierte sie, wie der Ohrstecker saß. »Hör zu, diese ganze Scheißoperation ist viel vertrackter, als wir dachten.«
»Wirklich? Warum? Was ist passiert?«
Wut prickelte über ihre Haut, und alle feinen Härchen an den Armen stellten sich auf, als Naomi leise sagte: »Magiebesessene, das ist passiert.«
Unten auf Eingangsniveau verließ eine weitere Gestalt den Aufzug. Eine Frau, wie Naomi dank des Fernglases feststellen konnte. Der Neuankömmling hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen und trug trotz der späten Abendstunde eine Sonnenbrille auf der Nase, so groß, dass sie vom Gesicht verdeckte, was irgend möglich war. Die Frau rauschte den Gehweg entlang, und Naomi verzog das Gesicht, als sie die Sorte selbstverliebten, betont weiblich zierlichen Gang wiedererkannte, den sie schon mehr als einmal aus unmittelbarer Nähe hatte bewundern dürfen.
Also ein Gast, okay. Eine der Super-Wichtigen aus der Crème de la Crème der Gesellschaft.
»Moment mal«, hörte sie Jonas durch den Ohrstecker sagen, »Magiebesessene? Ist das dein Ernst?«
»Ja.« Kaum mehr als ein angewidertes Grunzen. »Man hat mich bereits erwartet, kaum dass ich eingecheckt hatte. Ein Hexer hat sich an mich rangeschlichen und mich mit seiner Magie belegt, da war ich noch gar nicht richtig hier oben angekommen.«
»Carson?«
»Nein. Jemand anderes.« Naomi hob wieder das Fernglas an die Augen. »Hätte er mich doch gleich kalt gemacht.«
»Mensch, sag’ so was nicht!«
»Mhhm.« Naomi kniff die Augen zusammen und folgte mit dem Blick der Frau und ihrer Begleitung. Vier weitere Männer kamen aus dem Aufzug, drei von ihnen mühten sich mit noch mehr Koffern und Taschen ab. Himmel, und die lieben Kollegen hatten geglaubt, sie hätten Naomi mit Gepäck satt ausstaffiert.
»Du hast den Kerl erwischt, oder?«, bohrte Jonas nach.
»Nein«, antwortete Naomi. »Ich hatte ihn schon festgenagelt, tja, aber er hat echt alles gegeben. Und während ich mich wieder vom Boden aufgerappelt habe, hat er einen sauberen Abgang hingelegt.«
Jonas sog hörbar die Luft ein.
Naomi ließ ein Lächeln aufblitzen, richtete das Fernglas auf den gepflasterten Weg. Der Weg endete vor den einladend breiten Türflügeln der Lobby. Sie öffneten sich, und das Licht aus dem hell erleuchteten Gebäude drang als breiter Kranz vom Eingang aus in die Dunkelheit. Dennoch erkannte Naomi auf
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