Blutseele
auf mich warf, war ich mir dessen nicht mehr so sicher.
Die Kälte machte mich langsam, und in der plötzlichen Dunkelheit zog ich den Stöpsel aus der Flasche und schwenkte sie noch einmal, bevor ich den Trank ausgoss. Die Flüssigkeit beruhigte sich schnell. Ich konnte nicht riskieren aufzustehen und damit vielleicht Schnee hineinzutreiben, also konnte ich nur am Lärmpegel abschätzen, ob die sieben Glücklichen inzwischen ihre Plätze eingenommen hatten.
»Beeil dich!«, zischte Robbie.
Ich stopfte die leere Flasche in eine Manteltasche und suchte nach dem Finger-Stick. Das Klicken, mit dem sich das Plastik löste und die Klinge freigab, schien mich bis in die Knochen zu erschüttern, obwohl niemand in der Menge es auch nur hörte.
Dann wurden alle ruhig. Die plötzliche Stille sorgte dafür, dass mir das Herz in die Hose rutschte. Sie hatten die Anrufung begonnen. Ich hatte nur noch Sekunden, nicht mehr. Die Formel war auf Lateinisch – ein Segen für das kommende Jahr. Während die meisten Leute den Kopf senkten, stach ich mich in den Zeigefinger.
Meine Finger waren so kalt, dass ich nur einen dumpfen Schmerz fühlte. Ich hielt den Atem an und massierte meine Fingerspitze, während ich meinem Blut zuschrie, sich zu beeilen. Ein, zwei, dann drei Tropfen fielen herab und befleckten den Wein, während sie durch die dünne Flüssigkeit sanken.
Ich beobachtete alles und atmete den berauschenden Duft von Rotholz ein, der jetzt von der Mischung aufstieg. Robbie drehte sich mit weit aufgerissenen Augen um, und mein Herz machte einen Sprung. Ich hatte es richtig gemacht! Wäre es anders, würde es nicht so riechen.
»Du hast es geschafft!«, sagte er, und wir beide keuchten auf, als die durchsichtige Flüssigkeit plötzlich rot wurde, weil sich mein Blut verteilte und selbstständig alles vermischte.
Hinter uns erklang ein gemeinschaftliches Geräusch der Ehrfurcht, gleichzeitig sanft und mächtig. Ich hob den Kopf. Hinter Robbie erhob sich eine Blase aus Macht aus der Erde. Sie war riesig für einen Schutzkreis, und die schim mernde Barriere aus Jenseitsenergie erhob sich weiter über den Brunnen, vor dem der Kreis gezeichnet war. Weit entfernt erklangen die Glocken von Cincinnatis Kathedrale, die – genauso wie die Glocken der Kirchen im Umkreis – nicht von den Klöppeln, sondern von der Magie zum Klingen gebracht wurden.
Wir standen außerhalb des Schutzkreises, wie alle anderen auch. Er glitzerte wie ein Opal; die verschiedenen Auren der sieben ausgewählten Leute verteilten Schlieren aus Blau, Grün und Gold darauf. Ab und zu blitzte ein wenig Rot oder Schwarz auf: Das Rot ein Zeichen für Leiden, die uns stärker machten, das Schwarz für das Böse, das wir wissentlich taten – wir konnten nur eine Wahl treffen. Es war atemberaubend, und ich starrte den Schutzkreis ehrfürchtig an. Ich kniete im Schnee, umgeben von Hunderten von Leuten, aber in meinem Staunen fühlte ich mich allein. Ich konnte die kollektive Macht, die zwischen den Gebäuden hin und her schwappte, nicht sehen – sich aufbauende, wogende Macht –, aber ich konnte sie fühlen.
Ich suchte Robbies Blick. Seine Augen waren riesig. Er beobachtete nicht den Steintiegel. Stattdessen bewegte er seinen Mund ohne einen Laut zu erzeugen und zeigte mit der Hand hinter mich.
Ich sprang aus der Hocke auf und drückte meinen Rücken gegen den Felsen. Die Flüssigkeit in der Vertiefung des Steins war fast verschwunden. Sie erhob sich in einem goldenen Nebel, und ich schlug mir eine Hand vor den Mund. Der Nebel hatte die Umrisse einer Person. Er bildete klar und deutlich die Form eines Mannes mit breiten Schultern und männlicher Statur. Die Gestalt stand gebeugt, als hätte sie Schmerzen, und einen panischen Moment lang dachte ich darüber nach, ob ich meinem Dad wohl wehtat.
Hinter uns erklang ein Schrei aus tausend Kehlen. Ich keuchte auf und starrte über den Kopf meines Bruders hinweg zur Menge. Auf der Bühne trommelte der Schlagzeuger viermal, um den Beginn der Open-End-Party zu verkünden, dann stimmte die Band einen Song an. Die Leute schrien vor Begeisterung, und mir war leicht schwindlig. Der Lärm war fast körperlich zu spüren, und ich musste mich am Felsen abstützen.
»Tadel dem Teufel«, erklang hinter mir eine zitternde, verängstigte Stimme. »Es ist die Hölle. Die Hölle, bevor sie fällt. Heilig getadeltes Feuer!«
Ich zuckte zusammen und drückte mich mit weit aufgerissenen Augen fester gegen den Stein hinter mir.
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