Blutspiele
Nun, der Felsen bekommt jedes Mal, wenn so etwas passiert, einen großen Riss. Ich muss mich zusammenreißen, damit er nicht zerbricht.« Dann sah er sie wieder an. »Aber das schaffe ich, Eve.«
»Das weiß ich.« Sie setzte sich ihm gegenüber. Die Stärke und die Entschlossenheit, die er ausstrahlte, empfand sie wie eine lebendige Kraft. Diese Eigenschaften waren unverändert. Seit sie Joe vor so vielen Jahren kennengelernt hatte, war er für sie eine feste Burg gewesen. Sie erinnerte sich daran, wie sie in den Wochen nach Bonnies Verschwinden zusammengebrochen war und sich an ihn geklammert hatte. Selbst damals schon hatte sie sich bei ihm für Augenblicke sicher und beschützt gefühlt inmitten einer schrecklichen Welt.
Eigentlich hätte man erwarten sollen, dass er inzwischen verletzlicher wirkte. Sein braunes Haar war feucht und zerzaust, die hellbraunen Augen blickten älter und ein wenig müde. Sein Gesicht war schmaler geworden, die Knochen traten deutlicher hervor. Aber verletzlich sah er nicht aus. Bei seinem Anblick musste sie an das Porträt eines Gladiators denken, das sie auf einer Kalifornienreise mit Jane in einer Galerie gesehen hatte. Der Mann lehnte an einer von der Sonne ausgetrockneten Wand und wirkte entspannt und ausgeruht, aber unter der Oberfläche war deutlich seine Kraft zu erkennen, die nur darauf wartete, loszubrechen.
Sehr kurz davor stand, loszubrechen.
»Woran denkst du gerade?« Joe sah sie prüfend an.
»Du veränderst dich.« Sie bemühte sich um ein Lächeln. »Ich neige dazu, mich an den Menschen zu klammern, der du warst, als ich dich kennenlernte. Aber dieser Mann bist du längst nicht mehr, und ich bin auch keine gebrochene Frau mehr.«
»Manche Dinge ändern sich nie.«
»Aber Menschen schon. Vor kurzem habe ich jemandem erklärt, dass jeder sich ändert, und man sich nur anpassen muss.« Sie hob die Hand. »Nein, es ist nicht diese seltsame Sache mit Megan. Doch, vielleicht zu einem gewissen Grad, weil es eine Erfahrung ist und Erfahrungen Nachwirkungen haben. Du veränderst dich möglicherweise schon seit langem, und ich wollte es nicht sehen. Alles, was ich zugelassen habe, war die Erkenntnis, dass du der Suche nach Bonnie müde warst.«
Er sah ihr in die Augen und wiederholte: »Manche Dinge ändern sich nie.«
»Aber wir müssen herausfinden, was für Dinge das sind.« Sie holte tief Luft. »Doch jetzt nicht. Es wäre nicht fair, dich noch zusätzlich unter Druck zu setzen.« Sie hob den Löffel zum Mund. »Weißt du inzwischen mehr über den Mord an Nancy Jo?«
»Die Überwachungskamera auf dem Stockwerk des Einkaufszentrums, wo Nancy Jo ihr Auto abgestellt hatte, war zerstört. Aber es ist uns gelungen, das Bild eines hellgrauen Lincoln Town Cars zu finden, der etwa zur passenden Zeit aus der Garage gefahren ist.«
»Das Kennzeichen?«
»Praktischerweise mit Schlamm verschmiert.« Joe war mit dem Essen fertig und lehnte sich im Stuhl zurück. »Sie scheint ein zufälliges Opfer gewesen zu sein. Das arme Mädchen.«
»Warum? Wegen ihres Bluts? Das Ganze ist krank.«
»Geschenk zu Geschenk«, sagte Joe. »Und warum folgte Jelak Henry Kistle? Es würde mich nicht überraschen, wenn uns die Spur der Quittungen immer wieder in Kistles Jagdgründe führt.«
»Das ergibt doch keinen Sinn. Hast du etwas über seine Jugend hier in Atlanta herausgefunden?«
Er nickte. »Etwas dürftig. Er wuchs in einer Pflegefamilie in College Park auf. Seine Mutter war eine Crackhure und hat ihn als Kind oft allein gelassen, bis das Jugendamt ihn ihr weggenommen hat. Schon mit acht oder zehn Jahren kam er mit dem Gesetz in Konflikt. Mit siebzehn schlug er dann einen seiner Lehrer zusammen und landete im Gefängnis. Der Mann wäre fast gestorben. In den nächsten acht Jahren war Jelak immer wieder mal hinter Gittern.« Er schwieg nachdenklich. »Wir haben uns einige der Gerichtsakten angeschaut und sind auf etwas Interessantes gestoßen. Bei einer Routineüberprüfung von Jelaks Wohnung hat die Polizei eine beeindruckende Sammlung von Ampullen mit Blut entdeckt.«
Eves Augen wurden groß. »Und?«
»Nichts. Einiges davon war tierischen Ursprungs, der Rest menschlich. Jelak behauptete, es sei lediglich ein Hobby, und er habe das menschliche Blut aus einer Blutbank in der Innenstadt gestohlen.«
»Und die Polizei ist der Sache nicht nachgegangen?«
»Das wurde irgendwie verschusselt. Keine Beweise. Und ein paar Wochen später ist er wegen Raub ohnehin wieder ins Gefängnis
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