Blutspur
wieder Platz zu nehmen und streichelte ihren Kopf mit den grauen Locken. Sie trug ein schwarzes Kleid, das ihr viel zu groß war.
Sie war spät verwandelt worden, mit fast 90 Jahren. Man hatte sie gebeten, es tun zu dürfen. Unser Volk brauchte sie, weil sie einen Blick in die Zukunft werfen konnte. Theo war eine Seherin der alten Schule, die ohne Hokuspokus arbeitete. Bereits als Mensch hatte sie diese Gabe besessen. Dann war sie von den Dunklen gewaltsam verschleppt und gefoltert worden. Es war ein Wunder, dass sie überlebt hatte. Nachdem sie wie ein Stück Dreck auf die Straße geworfen worden war, hatten wir sie gefunden und wieder dem Leben zugeführt. Sie hatte sich nie richtig erholt und wenig später dem Schwarzmarkt angeschlossen, bereit, sich ihren Ängsten zu stellen und zu zeigen, dass sie keine Furcht mehr verspürte. Ich beneidete Theo dafür. Beneidete sie, weil sie den Willen aufgebracht hatte, den Dunklen zu trotzen. Ich hatte in dem Punkt versagt, und zwar auf der ganzen Linie.
Halb abgebrannte Kerzenstumpen tauchten das Zelt in ein schemenhaftes Licht. Auf dem Tisch lagen ein Stapel Karten und Theodoras Wunderkugel, wie sie diese nannte. Früher hatte ich an solchen Unsinn nie geglaubt und es für Täuschung und Gaukelei gehalten, doch nachdem ich mich in einen Vampir verwandelt hatte, waren diese Zweifel das geringste Übel gewesen.
„ Wie geht es dir?“, fragte ich, zog einen Stuhl näher heran und ließ mich darauf nieder.
Ihr linkes Auge war blind und von hellblauer, fast weißer Farbe. Trotzdem vermochte dies nicht ihren Blick zu trüben, auch nicht in andere Zeiten, weit über die Gegenwart hinaus.
„ Soll ich herumjammern wie ein altes Weib?“, rief sie mit kehliger Stimme.
„ Noch bin ich nicht tot. Und du weißt sicher, was das bedeutet.“
Theodora zwinkerte mir zu.
„ Dass du noch am Leben bist und sie dich alle mal können?“
Sie gluckste und langte unter den Tisch.
„ Ich habe was Feines für dich, du siehst mir ein wenig durstig aus.“
Mit diesen Worten gab sie mir einen Blutbeutel, bei dessen Anblick mein Herz höher schlug.
„ Wusste ich es doch“, grinste sie.
„ Du kennst mich eben gut, Theo.“
Ich nahm ihr den Beutel aus der Hand, riss ihn auf und trank gierig die rote Flüssigkeit.
„ Wenn du schon in den Kampf ziehst, musst du auch gestärkt sein, mein Lieber. Die Prinzessin wird auf dich warten.“
Ich wischte mir den Mund ab und sah sie neugierig an.
„ Hast du etwas gesehen? Kannst du mir helfen?“
Theodora seufzte.
„ Seit einigen Monden ist mein Blick getrübt, was nicht verwunderlich ist. Auch unter den Menschen verlieren die besten Wahrsager irgendwann ihren Weitblick. Und bei mir hat es sehr lange gedauert. Ich empfange nur Bruchstücke und mitunter manchmal sogar gar nichts. Es ist, als würde sich der Schleier des Vergessens über meine müden Augen legen. Ich werde aber versuchen, dir zu helfen. Schon, seitdem man gemunkelt hatte, dass die Dunklen die angehende Königin in ihre Gewalt gebracht haben, versuchte ich, etwas zu deuten, doch bisher leider ohne Erfolg.“
Nickend nahm ich es zur Kenntnis. Die Greisin wäre eine große Hilfe gewesen, doch auch sie verließ langsam ihre Energie, was nicht verwunderlich war.
„ Brauchst du irgendetwas? Ich kann dir alles besorgen.“
Sie schüttelte den Kopf.
„ Ich werde bestens versorgt, glaub mir, aber ich weiß es zu schätzen.“
Mir fiel etwas ein.
„ Was hast du damals gesehen? In Bezug auf die Prophezeiung?“
Sie dachte lange nach, bevor sie antwortete.
„ In Bezug auf die Weissagung änderten sich andauernd meine Voraussichten. Es war geradezu gespenstisch. Während wir hier sitzen, kann es von Minute zu Minute wechseln. Es kommt darauf an, wer das Schicksal beeinflusst und wer am Ende der Sieger sein wird. Lass es mich so erklären: Es gibt Dinge im Leben, von denen wir nichts ahnen, und die entwickeln sich so wie sie sollten. Aber diese Prophezeiung ist bekannt, und seitdem du die Kleine zum Rat bringen musstest, änderte sich der Ausgang sicher laufend, dafür muss ich nicht einmal meine Gabe einsetzen, wenn sie denn gut funktionieren würde. Hier wird Einfluss genommen, von unserem Volk und dem dieser abartigen Kreaturen, die unbedingt die Weltherrschaft an sich reißen wollen. Weißt du eigentlich, warum die Bösen immer danach trachten?“
Ich musste lachen. „Nein, ist mir
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