Blutspuren
mindestens 10 bis 12 Jahre alt. Vermutlich ist es sogar noch älter. Es wurde nämlich eine Tinte benutzt, die schon seit langer Zeit nicht mehr im Handel ist. Den Kriminalisten, die eigentlich an Überraschungen gewöhnt sein müßten, verschlägt es die Sprache, denn sie ziehen sofort die richtigen Schlüsse: Wenn dem so ist, steht die Markierung auf der Karte in keiner Beziehung zu dem Mord! Sie kann folglich nur entstanden sein, als Klausdorf Frau Schäfer noch gar nicht kannte. Und darüber hinaus: Zu dieser Zeit war das Gelände nicht durch einen Schuttabladeplatz verunstaltet.
Diese Erkenntnis stachelt ihren Ermittlungsehrgeiz an. Jetzt wollen sie über die geheimnisvolle Karte mit dem kleinen, unscheinbaren Kreuz mehr wissen. Klausdorfs Brüder, Verwandte und Bekannte werden befragt. Auch sie bestätigen, daß der Geländeplan aus dem Besitz des im Jahre 1952 verstorbenen Vaters stammt. Folgerichtig muß das Kreuz vor dem Tod des Vaters in die Karte eingetragen worden sein. Daraus ergibt sich eine weitere zeitliche Präzisierung: Die Eintragung auf dem Meßtischblatt muß mindestens 15 Jahre zurückliegen. Weitere Ermittlungen folgen. Dann finden sie heraus, daß die Tintenmarkierung durch Klausdorfs Vater wahrscheinlich im Herbst 1944 vorgenommen wurde, zu einer Zeit also, als der Beschuldigte selbst etwa 14 Jahre alt war. Das erklärt, warum Heinz Klausdorf energisch beteuert, die Eintragung auf dem Meßtischblatt nicht gemacht zu haben, ja sogar beschwört, das antiquierte Papier nicht einmal auseinandergefaltet zu haben, das auf geheimnisvolle Weise sein Verhängnis wurde.
Also: Klausdorfs Vater hatte die Kennzeichnung auf dem Plan genau an der Stelle vorgenommen, an der sein Sohn 23 Jahre später die Leiche seiner Geliebten versteckte. Eine solche eigenartige Duplizität zwischen Jahrzehnten auseinander liegenden Ereignissen muß doch eine Ursache haben. Fragen werden aufgeworfen, sinnvolle und törichte: Was bewog den Vater zu der Kennzeichnung des späteren Leichenfundorts? Können die unscheinbaren Zeichen auf dem Meßtischblatt für Heinz Klausdorf eine Bedeutung haben, der er sich nur nicht mehr bewußt ist? Ist es nach menschlichem Ermessen vorstellbar, daß die Übereinstimmung der Markierung auf der Karte mit dem Ort der Opferbeseitigung naturgesetzlichen Abläufen folgte? Oder gibt es eine andere logische Erklärung für die örtliche Identität zweier zeitlich sehr weit auseinander liegender und unabhängig voneinander ablaufender Ereignisse? Wirkten, wie mancher gebildete Mitmensch zu erklären versucht, gar paranormale Phänomene, wonach Klausdorfs Vater, freilich unbewußt, voraussah, daß sein Sohn an diesem Ort einmal etwas Schreckliches tun würde? Versteckte der Mörder das Opfer somit an einem von übersinnlichen Kräften vorbestimmten Ort?
Wie dem auch sei: Für den Fortgang des Ermittlungsverfahrens ist nur von Belang, daß Klausdorf mit dem Kreuz auf dem Meßtischblatt nichts zu tun hat. Folglich ist die Version einer langfristigen Planung des Verbrechens hinfällig. Die Kriminalisten sind zufrieden. Es war ein überaus glücklicher Umstand, bei der Wohnungsdurchsuchung auf die Markierung gestoßen zu sein, die sie schließlich auf den Gedanken brachte, das bezeichnete Gelände abzusuchen. Ihre nüchterne Erklärung: Es war ein Zufall, der sich nur mit dem vielmillionenfachen Bruchteil einer Wahrscheinlichkeit noch einmal wiederholen könnte.
Für die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt spielt die Eintragung auf dem Meßtischblatt keine Rolle. Sie steht mit der Tötung der Frau Schäfer in keinem Zusammenhang. Allerdings wird auf Klausdorfs Antrag die Frage geprüft, ob er durch den Streit mit seiner Geliebten in eine solch ungestüme Gefühlserregung geraten ist, daß er die Kontrolle bewußter Selbststeuerung verlor und dadurch eine unverschuldete Affekthandlung beging. Doch bald ist klar: Für ihn trifft weder eine Schuldminderung noch eine strafrechtliche Privilegierung im Sinne des Totschlags zu. Grund: Er hatte sich, als er den Rest der Weinflasche austrank, mit kühler Überlegung zur Tötung seiner überdrüssigen Geliebten entschlossen. Das bestätigt auch der psychiatrische Sachverständige, der Klausdorf als einen Menschen mit »vital-primitiver Persönlichkeitsstruktur und vordergründig egozentrischen Lebenszügen« einschätzt, der strafrechtlich verantwortlich ist.
Heinz Klausdorf wird zu einer lebenslänglichen
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