Blutstein
Kurz nach
sechs zog sie sich eine dicke Hose, einen Wollpullover und ihre Daunenjacke an
und ging ins Badezimmer. Dort öffnete sie den Medizinschrank.
Sie trug keine Wertsachen bei sich, als sie an diesem Abend ihr Haus
verließ. Und ihr Handy hatte sie auf dem Küchentisch liegen lassen.
Als sie den Kiesweg erreicht hatte, sah sie die Scheinwerfer eines
Autos, das die Hauptstraße entlangfuhr. Kam Max wieder zurück?
Sie beschleunigte ihre Schritte und lief wie so oft zuvor am
Steinbruch entlang und bog dahinter in die Alvar. Sie dachte unentwegt an ihren
Ehering, ihr Geschenk an die Elfen war eine übereilte Tat gewesen – ein Fehler.
Max den Tod zu wünschen war nicht richtig, ganz unabhängig davon, was er mit
Ally gemacht hatte. Sie musste den Ring zurückholen.
Sie rannte nicht, denn sie war zu müde und zu hungrig dafür, aber
sie ging mit großen Schritten nach Nordwesten, bis sie das Wacholderwäldchen
sah.
Bedächtig trat sie an den Elfenstein heran und betrachtete seine
Oberfläche. Sie sah ein paar vereinzelte alte Münzen dort liegen, aber sonst
nichts.
Ihr Ehering war verschwunden.
Sie waren da gewesen.
Mit gesenktem Kopf stand sie vor dem Stein. Dieser Frühlingsabend
war kalt, und die Dunkelheit kroch schon heran, aber Vendela hatte keine Kraft,
sich zu bewegen.
VENDELA UND DIE ELFEN
V endela
rennt über die Alvar, mit der untergehenden Sonne um die Wette. Es ist alles so
aussichtslos – sie muss nicht nur jemanden finden, dem sie vertraut, sondern
diese Person auch noch dazu überreden, mit in das Reich der Elfen zurückzukehren
und Jan-Erik nach Hause zu tragen. Wenn sie niemandem begegnet, muss sie Essen
und Decken vom Hof holen, damit sie beide wenigstens in der Alvar übernachten
können, wenn es ihr nicht gelingt, ihren großen Bruder zum Laufen zu bewegen.
Alles hängt davon ab, dass sie sich beeilt.
Aber das Wasser stellt sich ihr in den Weg, überall stehen kleine
und große Schmelzwasserseen, in denen sich der Himmel spiegelt. Sie muss große
Umwege in Kauf nehmen, mal nach links, mal nach rechts, und wenn sich die Sonne
hinter dicken Wolken versteckt, fällt es ihr noch schwerer, die Orientierung
nicht zu verlieren.
Sie weiß auch nicht, wie spät es ist, sie hat keine Uhr.
Das Blut pocht in ihren Ohren, sie reißt sich die Beine an den
Büschen und Steinen auf, ihre undichten Stiefel sinken tief in den matschigen
Boden und saugen sich voll Wasser, aber sie darf nicht langsamer werden.
Sie rennt und rennt und hält erst an, als sie eine Mauer aus großen
runden Steinen erreicht hat. Die Mauer reicht ihr bis zur Brust und erstreckt
sich weit in beide Richtungen. Sie kennt diese Mauer nicht – wo ist sie bloß?
Der Himmel ist schwarz und sie kann die Himmelsrichtungen nicht mehr sicher
zuordnen.
Sie dreht um und rennt in die entgegengesetzte Richtung weiter, aber
sie findet auch nicht wieder zurück zum Elfenstein. Die Pfade zwischen den Seen
sind wie in einem Labyrinth, sie ist verloren in dieser Welt aus Wasser.
Vendelas viel zu dünne Kleidung ist durchgeschwitzt, sie friert und
hat Hunger. Am liebsten würde sie ihre Hand in die eines Erwachsenen schieben
und sich sicher fühlen dürfen, aber da ist weit und breit niemand. Es ist ganz
still. Sie geht immer weiter, manchmal sogar durch die kleinen Pfützen und Seen
hindurch, wenn sie keine Lust mehr hat, außen herumzulaufen. Die meisten sind
nur etwa knöcheltief und ihre Stiefel sind sowieso schon durchweicht und bis
auf die Socken durchnässt.
Dann entdeckt sie eine Steinmauer in einiger Entfernung. Vorsichtig
nähert sie sich, mustert die Steine und misst die Höhe. Dann ist sie überzeugt
davon, dass es dieselbe Mauer von vorhin sein muss. Sie ist im Kreis gelaufen.
Vendela kann keinen Schritt weiter und lässt sich mit dem Rücken zur
Mauer zu Boden sinken. Sie schließt die Augen und bleibt lange so sitzen.
Als sie sie wieder öffnet, ist sie umgeben von Schattengestalten,
hellen Wesen. Eigentlich dürfte es sie gar nicht hier geben, aber Vendela kann
sie ganz deutlich sehen. Sie begreift, dass es Elfen sind, die Jan-Erik vom
Elfenstein geholt haben und jetzt gekommen sind, um sie zu holen.
Und Vendela möchte sehr gerne mitgenommen werden, sie streckt ihnen
die Hände entgegen.
»Kommt«, flüstert sie ihnen zu.
Aber die Gestalten nähern sich nicht, im Gegenteil, sie lösen sich
langsam auf und sind schließlich ganz verschwunden.
»Hallo?«
Sie hört Rufe in der Dunkelheit.
»Hallo?
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