Blutstein
lange im Gras gesessen und gewartet, bis er sicher war,
dass sie nicht zurückkommen würde. Erst dann ist er aufgestanden und hat sich
auf den Weg gemacht. Jan-Erik ist zu den Elfen gegangen. So muss es gewesen
sein. Er hat das Reich hinter dem Nebel betreten, wo die Sonne immer scheint.
Als sie etwa eine Stunde später Kalmar erreichen, halten sie vor dem
beleuchteten Tor des Stadtgefängnisses. Henry nimmt seine Reisetasche.
»Vielen Dank fürs Fahren«, sagt er.
Dann schlägt er seinen Mantelkragen hoch, wirft sich die Tasche über
die Schulter und lässt Vendela ohne ein Wort des Abschieds zurück. Er geht auf
die Wachen am Tor zu und sieht sich kein einziges Mal um.
Die Zeit vergeht. Weil Jan-Erik nicht wie vereinbart am Bahnhof für
die Weiterfahrt nach Salberga auftaucht, wird nach ihm gefahndet. Aber ein
geisteskranker Jüngling auf der Flucht ist kein großer Fall. Die Polizei gibt
anderen Dingen den Vorrang.
Jan-Erik wird nie gefunden, Vendelas Bruder bleibt wie vom Erdboden
verschluckt.
Die Zeit vergeht, und der kleine Hof der Familie Fors findet schon
im darauffolgenden Sommer neue Besitzer.
Die Zeit vergeht, aber Vendela besucht ihren Vater kein einziges Mal
im Gefängnis.
Als er schließlich entlassen wird, ist er ein gebrochener Mann. Aber
er zieht im Herbst wieder zurück nach Öland, lässt sich allerdings in Borgholm
nieder, weil ihn da weniger Leute kennen als in seiner Heimatstadt. Henry wird
Gelegenheitsarbeiter, wohnt in einem Zimmer ohne Kochnische und hangelt sich
mehr recht als schlecht durchs Leben.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich Vendela in Kalmar eingelebt und will
nicht zurück nach Öland. Sie hat bei ihren Stiefeltern Margit und Sven ein ganz
neues Leben angefangen. Die Kinder in ihrer Klasse haben schnell vergessen,
dass sie von der Insel stammt, und aufgehört, sie mit ihrer Herkunft
aufzuziehen. Ihre Stiefeltern haben keine eigenen Kinder, sie sprechen nie von
Elfen und scheinen Vendela von Herzen gern zu haben.
Alles wird besser.
Sie bekommt neue Kleidung, ein rotes Fahrrad und sogar ein
Grammofon.
Sie bekommt fast alles, worum sie bittet, sie muss sich nichts mehr
heimlich wünschen.
Sie wächst glücklich auf, macht ihren Schulabschluss und trifft
einen netten Mann, dem ein Restaurant gehört. Sie bekommen eine Tochter.
Die Erinnerungen an Öland verblassen mit den Jahren, und Vendela
nimmt nur selten die Fähre hinüber auf die Insel, um ihren Vater zu besuchen.
Sein Zimmer ist übersät mit leeren Schnapsflaschen, und sie haben sich nichts
mehr zu erzählen. Als Henry Ende der Sechzigerjahre stirbt, fährt sie überhaupt
nicht mehr nach Öland. Sie hat dort auch keine lebenden Verwandten mehr – nur
ein paar kalte Grabsteine auf dem Friedhof. Aber sie hat zwei Gegenstände in
ihrem Zimmer stehen, die sie an Öland erinnern: eine schöne Skulptur aus
Kalkstein, die sie von ihrem Vater bekommen hat, und ein leeres
Schmuckkästchen.
Erst mit vierzig, ihre Ehe mit Martin ist geschieden, und sie hat
Max Larsson geheiratet, fängt Vendela an, sich mit ihrer Kindheit auf Öland zu
beschäftigen, und in ihr erwacht der Wunsch, dorthin zurückzukehren.
Und die Sehnsucht, ihrem Bruder ins Reich der Elfen zu folgen.
61
I ch will keinen Schmuck mehr haben! ,
hatte Ella geschrieben.
Gerlof war auf den letzten Seiten der Tagebücher seiner Frau
angekommen. Nur viereinhalb Seiten hatte er noch zu lesen.
Die Aufzeichnungen endeten im Frühling 1958 , die letzten Zeilen waren besonders
dicht beschrieben. Ellas Handschrift wirkte jetzt nachlässiger und hektischer.
Gerlof zögerte einen Augenblick, ehe er sich seine Brille aufsetzte, um mit
seiner Lektüre fortzufahren:
Heute ist der 21.
April 1958, und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es sind so viele
furchtbare Dinge geschehen, und Gerlof ist nicht hier. Gestern ist er nach
Stockholm aufgebrochen und sollte eigentlich heute zurückkommen. Aber gestern
hat er mich angerufen und mir erzählt, dass John und er im Hauptstadthafen am
Kai unterhalb des Rathauses festsitzen. An der Küste im Norden herrscht Sturm,
und sie können nicht ablegen. Der Sturm hat die Insel noch nicht erreicht, aber
es ist sehr kalt, und ich habe schon morgens die elektrischen Heizlüfter
angestellt.
Die Mädchen sind
heute Nachmittag mit den Rädern losgefahren, um im Gemeindezentrum ins Kino zu
gehen. Deshalb war ich wieder allein zu Hause. Stenvik wirkte wie ausgestorben.
Die Sonne hatte
begonnen unterzugehen, und ich saß in der Stube
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