Blutstein
sich vielleicht noch mehr gewünscht hat.
Vielleicht ein besseres Leben? Ein Leben weit weg vom Bauernhof,
weit weg von ihrem Vater, dem Invaliden und der Insel? Weit weg, in einer
anderen Welt, ohne Pflichten, wo Geld keine Rolle spielt?
Vendela erinnert sich nicht mehr. Sie lässt die Münze in der Kuhle
liegen und geht ihrer Wege, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie kommt nach
Hause und läuft hinaus zur Wiese, wo die Kühe ihre Köpfe heben und sie
erwarten. Rosa, Rosa und Rosa reihen sich auf und beginnen, zum Gattertor zu wanken,
Vendela hebt den Stock. Aber an diesem Tag schlägt sie die Tiere kein einziges
Mal, sie ist zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt. Sie geht hinter den Kühen
her und grübelt darüber nach, wie ihr Wunsch wohl in Erfüllung gehen kann.
In der darauffolgenden Nacht erwacht sie vom Gebrüll der Tiere in
der Dunkelheit. Sie klingen, als hätten sie Todesangst, und neben dem Muhen
hört Vendela lautes Prasseln und Knistern.
Sie setzt sich in ihrem Bett auf, und in diesem Moment riecht sie
den Rauch, und durch die Rollgardinen sieht sie ein Flackern im Hof. Ein gelber
Lichtschein, drüben am Stall, der immer größer wird und die anderen Gebäude mit
dem schwarzen Wald verschmelzen lässt. Dann hört sie schwere Schritte und
Geschrei:
»Der Stall brennt!«
Das ist Henrys Stimme. Sie hört, wie er durch das Zimmer poltert und
dann ihre Tür aufreißt.
»Es brennt. Du musst sofort raus hier!«
Vendela springt aus dem Bett, Henry zerrt an ihr und trägt sie die
Treppe hinunter in die kalte Nacht hinaus. Sie landet im feuchten Gras und
blickt sich verwirrt um. Und dann sieht sie, dass der Stall in Flammen steht.
Die Flammen drängen zwischen den Holzbrettern hervor und schicken tanzende
Funken in den Nachthimmel. Sie lecken schon am Dach der Scheune.
Henry steht neben ihr, er ist barfuß und nur im Nachthemd. Da dreht
er sich plötzlich zum Haus um.
»Ich muss Jan-Erik holen!«
Er stürzt zurück ins Haus.
»Jan-Erik?«
Aber sie erhält keine Antwort.
Die Kühe brüllen, lauter und gequälter, als sie es je gehört hat.
Sie können dem Feuer nicht entrinnen.
Die Flammen schlängeln sich auch über den Boden, klettern an der
Außenwand nach oben und schlagen über dem Dach in roten Wirbeln zusammen.
Vendelas Beine sind wie gelähmt. Sie kann sich nicht bewegen, sie bleibt im
Gras sitzen und beobachtet, wie ihr Vater mit einem großen Deckenbündel aus dem
Haus kommt.
Henry setzt das Bündel auf dem Boden ab.
Vendela hört pfeifende Atemzüge. Zwei dürre Arme bohren sich
zwischen den Decken hervor, ein Gesicht mit großen Augen kommt zum Vorschein,
und ein Mund mit weißen Zähnen lächelt ihr entgegen.
Es ist der Invalide, der da im Gras sitzt, nur einen Meter von ihr
entfernt.
Sie starren sich an, während um sie ein Krachen und Bersten die Luft
erfüllt, als das Dach des Stalles in sich zusammenstürzt.
Im Schein des Feuers kann Vendela sehen, dass der Invalide
keineswegs alt ist. Er ist ein Junge, vielleicht fünf oder sechs Jahre älter
als sie. Seine Beine sind lang und dünn.
Aber er ist offensichtlich sehr krank. Er hat viel Schleim in seiner
Luftröhre, das kann Vendela hören, und mit seiner Haut stimmt etwas nicht –
sein Gesicht ist rot und angeschwollen, obwohl das Licht der Flammen nicht
daraufscheint. Und er hat lange Wunden mit getrocknetem Blut und Schorf auf
Stirn und Wangen, als hätte ein Tier ihn angefallen. Auch sein Oberkörper ist
rot und voller Narben. Trotzdem lächelt er.
Etwa zwei oder drei Jahre – so lange hat der Invalide nun bei ihnen
auf dem Hof gewohnt, ohne dass Vendela wusste, wer er war. Konnte er sprechen?
Verstand er Schwedisch?
»Wie heißt du?«
Er öffnet seinen Mund und kichert, antwortet aber nicht.
»Ich heiße Vendela, und du?«
»Jan-Erik«, sagt er schließlich mit so leiser und dumpfer Stimme,
dass sie kaum gegen das Donnern des Feuers zu hören ist. Er kichert erneut.
»Wer bist du?«
»Jan-Erik«, wiederholt er.
Henry rennt in wilder Verzweiflung über den Hof, hin und her. Als
das Feuer auf das Wohnhaus überzugreifen droht, füllt Henry Eimer mit Wasser
und stürzt in den ersten Stock, um das Holz zu wässern und die Funken zu
ersticken.
Da endlich steht Vendela auf. Sie macht eine einzige Sache richtig
in dieser Nacht, denn sie geht zum Hühnerstall neben der brennenden Scheune und
öffnet die Tür. Die Hühner und Küken flattern in einem einzigen, wilden
Durcheinander über den Hof, dicht gefolgt vom
Weitere Kostenlose Bücher