Blutstrafe - Thriller
geliebt, seine Mutter, doch manchmal hatte er gefürchtet, sie würde ihren Mund nie halten können.
Sie war vor drei Jahren gestorben, gemeinsam mit ihrem witzlosen Philosophieabschluss an der University of Hallmark. Als sie auf ihrem Totenbett gelegen hatte, hatte er sich zwingen müssen, nicht die Schläuche herauszureißen, die sie wie Ranken in einem Plastikregenwald umgeben hatten, und sie zu fragen, warum ER dann, zum Teufel noch mal, sein Geschenk wieder zurückverlangte, wenn das Leben so ein wertvolles Geschenk war.
Natürlich hatte er nicht gefragt. Trotz ihrer Fehler war sie seine Mutter gewesen. Sie hatte sich für ihn aufgeopfert, und er wollte ihr die Illusion, mit der sie gelebt hatte, im Tod keinesfalls nehmen.
Doch jetzt brauchte er dieses Versteckspiel nicht mehr. Seien wir ehrlich, dachte er – in diesem krankhaft dekadenten Chaos, das sich Gesellschaft nannte, war negatives und asoziales Verhalten mehr als angebracht. Er wollte nicht Teil dieser sinnlosen Ausartung sein, zu der die Gesellschaft verkommen war.
Nehmen wir den heutigen Tag. Mittwoch – Matinee-Tag für die Broadway-Musicals. Um ihn herum busweise Idioten, die gedankenlos umherirrten. Die nach New York hereinkommen aus ihren hühnerschissgroßen Vororten und lautstark herumschreien, um hundert Kröten pro Arsch bezahlen und noch größeren Idioten in Halloween-Kostümen zuhören zu dürfen, die abgedroschene, dämliche Lieder plärren. War das Kunst? Das Beste, was das Leben zu bieten hatte?
Doch es ging keineswegs nur um die Provinzler und Vorstadtschnösel. Gleich um die Ecke der 40th Street war er an den angeblich très hippen, über alles Bescheid wissenden New-York-Times -Reportern und -Fotografen vorbeigekommen, die in ihr neues Bürogebäude zur Sklavenschicht im Ministerium der Wahrheit strömten. Unterwerft euch der Demokratischen Partei, Kameraden, wollte er ihnen zurufen. Seid gegrüßt, Großer Bruder und noch größere liberale Regierung.
Als er Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett erreichte, ging er langsamer. Mengen von Touristen drängten sich um eine lebensgroße Spiderman-Puppe vor dem Gebäude. Angewidert schüttelte er den Kopf. Er kam jetzt also am Land der Toten vorbei.
» 50 Dollar? Für eine Rolex?«, hörte er jemanden mit südlichem Akzent in der Menge rufen. » Jawoll, abgemacht!«
Drei Meter vor ihm wollte ein dürrer junger Glatzkopf gerade sein Geld dem Westafrikaner hinüberreichen, der hinter einem Klapptisch voller falscher Uhren saß.
Der Lehrer lächelte. So viele seiner alten Einheit waren aus dem Süden gewesen – brave Männer aus Kleinstädten, die immer noch an einfache Dinge wie Patriotismus und gutes Benehmen glaubten und Dinge tun wollten, die ein Mann eben zu tun hatte.
Der Lehrer hatte nicht die Absicht, stehen zu bleiben, doch als er die Bulldoggentätowierung der Marines auf dem Unterarm des Jungen sah, konnte er nicht anders.
» Hey du, Kumpel«, sagte er. » Glaubst du echt, du könntest eine Rolex für 50 Dollar bekommen?«
Der junge Soldat gaffte ihn an, halb misstrauisch, halb froh, einen Rat von jemandem zu erhalten, der sich offenbar auf diesem Gebiet auskannte.
Der Lehrer streifte seine eigene Rolex Explorer vom Arm, reichte sie dem Jungen und nahm ihm die unechte ab.
» Merkst du, wie schwer die ist?«, fragte er. » Die ist echt. Die hier« – die falsche schleuderte er dem Betrüger an die Brust – » ist Scheiße.« Der schwergewichtige Afrikaner wollte wütend aufspringen, doch der strenge Blick des Lehrers zwang ihn, sitzen zu bleiben.
Der Südstaatler grinste verlegen. » Gott, was bin ich doch für ein Idiot. Jetzt bin ich erst zwei Wochen nach meinem einjährigen Irakeinsatz zurück. Man sollte doch denken, dass ich was gelernt habe.«
Er reichte dem Lehrer die Rolex zurück. Der jedoch blickte nur darauf, ohne sie anzunehmen, während er sich daran erinnerte, wie er sie im Alter von 28 Jahren gekauft hatte.
Scheiß drauf, dachte er schließlich. Die kannst du auch nicht mitnehmen.
» Die gehört dir«, sagte der Lehrer. » Keine Angst, du stehst in keiner Pflicht.«
» Äh, äh«, stammelte der Junge. » Also, danke, ja, Mister, aber das könnte ich nicht …«
» Hör mal, Soldat, ich war hier, als die beiden Türme eingekracht sind. Wenn nicht jeder in dieser Stadt so ein Stück Scheiße wäre, würde man dich und alle anderen Soldaten feiern, die ihren Arsch im Nahen Osten als amerikanische Helden riskieren. Dieser dreckigen, alten Stadt
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