Blutsvermächtnis (German Edition)
verfolgen, sofern sie nicht vollkommen blind war. Ob Jason demnach bereits auf sie wartete? Die Unsicherheit, die sie während des Fluges gequält hatte, wollte nicht abfallen, obwohl sich ihre Überzeugung gefestigt hatte. Es war richtig, nach L. A. geflogen zu sein. Die Antwort auf die Frage, ob sie nicht eher hätte in Chile bleiben und Dad suchen sollen, nachdem das Blut am Schlüssel ihr die Gewissheit gegeben hatte, nicht zu irren, gab die Tatsache, dass sie Catalina nicht erreichte und Noah sich nicht meldete. Von Dad wusste sie zumindest, dass er lebte.
Sobald sie sich Jason stellte, durfte sie allerdings auf keinen Fall einen Augenkontakt mit Noah herstellen.
„Fünfzehn Dollar, Ma‘am.“
Nevaeh bezahlte den Fahrer und stieg aus. Das Rauschen der Meeresbrandung, ein Geräusch, das sie immer geliebt hatte, das sie beruhigte und besänftigte, sie in Wohlbefinden schaukelte, wirkte bedrohlich und kalt. Kalifornische Schopfwachteln kreisten am Himmel, ihr Krächzen schabte an Nevaehs Trommelfellen. Der Eindruck, von allen Seiten beobachtet zu werden, wollte nicht weichen.
Sie blickte sich um. Was würde passieren, sobald Jason sie in seiner Gewalt hatte? Tief im Inneren wusste sie die Antwort. Sie würde ihre Fähigkeit zulassen müssen, sie zu beherrschen lernen, versuchen, sie gegen ihren Widersacher zu richten. Angst schnürte ihre Kehle zu und ließ sich die Härchen in ihrem Nacken sträuben. Dann begann sich die Welt zu verändern. Wie mit züngelnden Flammen leckte Hitze an ihrer Gehirnschale, eine pulsierende Woge drückte auf ihren Geist, als trachtete etwas danach, Besitz von ihr zu ergreifen. Je intensiver sie sich sträubte, desto heftiger stach der Schmerz in ihren Kopf. Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Schläfen.
Renn weg!
, schrie die Stimme ihrer Vernunft.
Bleib da!
, befahl die Liebe zu Noah.
Bring ihn nicht in Gefahr!
Gegen ihren Willen setzten sich ihre Beine in Bewegung. Nevaeh rannte blindlings los und erst nach einigen Yards besann sie sich, eine Richtung zu bestimmen. Der Highway schien am sichersten. Sie schätzte die Entfernung auf fünfzig Yards. Dort würde sie auch viel schneller laufen können, als wenn sie zum Strand davonpreschte. Sie schlängelte sich zwischen Büschen hindurch und rannte auf der Zufahrtsstraße zum Parkplatz weiter. Den Highway trennte ein weiterer Grünstreifen. Palmen warfen lange Schatten, schienen wie mit ausgestreckten Klauen nach ihr zu greifen. Hinter ihrer Stirn tobte ein Krieg.
„Nevaeh! Bleib stehen!“
Jasons Tonfall klang hart und gnadenlos. Sie wollte seinem Befehl Folge leisten, doch sie schaffte es nicht. Ihre Füße trugen sie weiter und weiter. Gehetzt sah sie sich um. So früh am Morgen gähnte der riesige Parkplatz mit Menschenleere, verlassene Fahrzeuge glotzten mit toten Augen in den Sonnenaufgang. Nicht einmal ein einsamer Jogger drehte irgendwo seine Runden. Die Schritte in ihrem Rücken knallten auf dem Asphalt. Sie bog auf einen Trampelpfad zur Straße hinüber, stolperte nach einigen Yards und fing sich auf dem schmalen Bürgersteig an einem Laternenpfahl ab. Erneut nahm sie Anlauf und rannte am Straßenrand auf einen entgegenkommenden Lieferwagen zu. Sie sah nach hinten. Jason war ihr dicht auf den Fersen. Aus der Gegenrichtung näherte sich ein weiteres Fahrzeug. Nevaeh zwang alle Kraft in die Beine und rannte noch schneller. Schon spürte sie Krallen, die sich in ihren Nacken bohrten … da bremste ein Fahrzeug mit kreischenden Reifen direkt neben ihr. Das Heck stellte sich schräg, sie prallte gegen Metall und stürzte rücklings zu Boden. Die Schritte hinter ihr gerieten ins Stocken. Ehe Nevaeh zum Luftholen kam, packten sie zwei Männer rechts und links und zogen sie in den Wagen. Das Zuknallen der Schiebetür mischte sich mit einem wutentbrannten Aufschrei, der nicht verhallen wollte.
Ihr eigener Schrei, der sich aus der Kehle würgen wollte, steckte im Hals fest. Finger legten sich über ihre Lippen, eine Stimme, die offenbar betont beruhigend klingen sollte, sagte: „Die Gefahr ist vorüber, Nevaeh.“
Sie schlingerten um eine Kurve. Die Hand löste sich, als die Fahrt gemäßigter verlief.
„Wer seid ihr? Was wollt ihr? Woher kennt ihr meinen Namen? Wo ist Noah?“
„Alles zu seiner Zeit, Ms. Morrison.“ Eine weitere Person sprach zu ihr aus dem Dunkeln. „Wir bringen Sie zunächst an einen sicheren Ort. Bitte verhalten Sie sich ruhig, sobald wir das Fahrzeug verlassen.“
„Oh nein. Sie
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