Blutsvermächtnis (German Edition)
Tatsache, dass die Freilassung des Personals das Ende seines bisherigen Lebens bedeutete.
Das Geheimnis seiner Existenz und seines Reiches würde nicht mehr lange eines bleiben. Nicht allein die Frage, woher die Fahrzeuge stammten, wenn die Angestellten in San Pedro auftauchten, würde die Neugierde sämtlicher Presseteams erwecken, von denen sich mehr in der Wüste aufhielten als ihm lieb war. Das Problem hätte er noch mit einer anderen Art des Rücktransports lösen können. Doch das Schweigen würde nicht anhalten. Selbst wenn die Domestiken einige Tage aus Loyalität und des anständigen Lohnes halber den Mund hielten, es würde nicht allzu lange dauern, bis dem ersten ein falsches Wort entschlüpfte. Sie mental zu beeinflussen hatte keinen Sinn. Es gelang ihm, den Willen zu lähmen, sofern sich die Personen in seiner Nähe aufhielten, doch über Entfernungen hinweg und dauerhaft die mentale Umklammerung eines oder mehrerer Geschöpfe aufrechtzuerhalten, war unmöglich. Er konnte weder Erinnerungen löschen noch ihnen Befehle erteilen.
Er war müde. Sein Geist, seine Seele. Zu lange hatte er keinen Frieden und kein Glück gefunden. Wenn es schon kein dauerhaftes sein sollte, so hatte er wenigstens auf ein kurzes gehofft – doch auch das hatten ihm die Väter verwehrt. Niemals hatte die Gunst des Schicksals Bestand.
Elia hob die Fäuste zum Himmel. „Ich habe genug Buße getan“, brüllte er. „Was wollt ihr noch von mir?“
Hunderte und Aberhunderte Male hatte er auf den höchsten Gipfeln der Welt gestanden und die Götter angefleht, bis er den Glauben an sie verloren hatte. Wusste er überhaupt noch wirklich, wer er war und woher er kam? Er hatte lange vergessen, welche Schuld er auf sich geladen haben musste. Psychologen der Moderne hätten wahrscheinlich gesagt, dass sein Geist sich auf diese Weise einen Selbstschutz geschaffen hatte, um nicht zugrunde zu gehen.
Elasippos war zu einem Mythos geworden, an dem er selbst Zweifel hegte. Manchmal befiel ihn gar Skepsis, ob es Mestor wirklich gab, ob er die mumifizierten Gebeine finden würde, sollte er sich überwinden und die Grabkammer öffnen. Die Angst, dass er seine Furcht bestätigt sähe und sich damit seine Identität vollständig verflüchtigte, hielt ihn ebenso stark ab wie der Frevel, den er begehen würde, falls seine Erinnerungen ihn doch nicht trogen. So war ihm nichts geblieben als an dem Einzigen festzuhalten, das er hatte. Das Gedenken an Mestor.
Die Krise, in die er seit dem Erdbeben tiefer und tiefer stürzte, raubte ihm jedoch die letzten Reste seines Lebenssinns.
Seit er Nevaeh begegnet war, hatte er zum ersten Mal in seiner Ewigkeiten währenden Existenz gespürt, was wahre Liebe zwischen Mann und Frau sein musste. So intensiv wie jene unendliche Hingabe, die er seinem Sohn entgegenbrachte – und doch anders.
Es glich keiner Liebe, die er jemals empfunden hatte, hob sich ab von den glückseligsten Empfindungen, die je sein Innerstes durchrieselt hatten. Seine Seele schrie danach, sich mit Nevaeh zu vereinen, eins zu werden, um zusammenzufügen, was niemals hätte getrennt werden dürfen. Er fühlte sich wie ein leeres Gefäß, und nur eine einzige Flüssigkeit würde nicht durch seine poröse Hülle fließen und ihn ausgedörrt zurücklassen. Allein Nevaehs Liebe und Hingabe wäre fähig, sein Ich mit Leben zu füllen. Elia hatte diese Gefühle zuerst nicht wahrhaben wollen,doch je mehr er sich aufbäumte und dagegen zur Wehr setzte, desto tiefer verstrickte er sich, bis er glaubte, ohne Nevaehs Nähe zu ersticken. Er erfror im glühenden Sonnenschein ohne die Wärme ihres Körpers und ertrank auf dem Trockenen ohne die Flut ihrer Zärtlichkeit.
Doch er hatte seine Chance vertan. Und er war zu schwach, zu müde, zu ausgelaugt, um Nevaeh zu suchen.
Nicht zuletzt blieb Mestor. Elia gab sich dem seit dem Erdbeben tobenden Kampf geschlagen. Zwölf Jahrtausende Bitterkeit und Enttäuschung, Trauer und Selbstverzweiflung mussten zwangsläufig den Sieg erringen über wenige Stunden Glück und Hoffnung.
„Ja“, bestätigte er sich, „mein Entschluss steht fest.“
Elia begab sich auf den Rückweg in die Behausung. Während er durch den Tunnel lief, sandte er eine Woge entspannender Energie zur Beruhigung der Menschen in seinem Komplex aus. Er wollte, dass die Räumung so schnell und unkompliziert wie möglich über die Bühne ging.
In der Bibliothek nahm er eine Wanderung von Wand zu Wand auf und bereitete sich auf das Gespräch
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