Blutsvermächtnis (German Edition)
die Stimme ihres Vaters zu ihr herüber.
„Ich habe einen Wagen gefunden. Augenblick noch.“ Sie griff nach dem Drehregler für das Scheinwerferlicht und betete leise murmelnd vor sich hin. Vergeblich. Das Licht blieb aus. Ihr Arm zuckte zurück und sie stieß einen Fluch aus. Dabei streifte sie den Hebel am Lenkrad und für eine Sekunde leuchtete das Fernlicht auf. Sofort versuchte sie es erneut, doch die Schaltung rastete nicht ein. Nur über die Lichthupenfunktion flammte das Licht auf. Sie hielt den Hebel fest. „Komm rüber, Dad“, brüllte sie und starrte in den erhellten Bereich. Ihr Herz klopfte lauter und schneller, wollte ihr schier aus der Brust springen.
Zunächst schälte sich nur ein schwarzer Schatten aus dem Dunkel, dann erkannte sie Dads Umrisse und die Frau auf seinen Armen. Erst, als er vor dem Fahrzeug in die Knie ging, die völlig entkräftete Maria, deren Arme schlaff herabhingen, sanft auf den Boden bettete und sein Gesicht in den Lichtkegel hob, überfiel sie der Schock wie die Detonation einer Atombombe.
Das war nicht Dad! Vielmehr – er war es, aber sein Aussehen entsprach der Erinnerung ihrer Kindheit. Nevaeh schnappte nach Luft. Das war zu viel! Das durfte nicht wahr sein … in was für einen Albtraum war sie geraten? Welche grausame Macht gaukelte ihr derartige Trugbilder vor, quälte sie auf unmenschliche Weise mit Trauer und Schmerz. Sie presste die Lippen aufeinander, um die Schreie zu unterdrücken, die sich mit Gewalt aus der Kehle zwängen wollten. Eine zärtliche Berührung an der Schulter durchzuckte sie wie ein Blitzschlag.
„Liebes … hab keine Angst. Hör mir zu, mein Sternchen.“
Mein Sternchen … die Koseworte, mit denen Dad sie benannte, seit sie denken konnte. Wem blickte sie in die Augen, sobald sie sich umwandte? Es hatte alles gestimmt. Seine Stimme, seine Wärme, der Geruch seiner Haut. Alles in ihr schrie, dass Dad ihr nahe war, sein Tod eine Lüge. Das Bild jedoch, das an ihren geschlossenen Lidern haftete, passte zum Erbarmen nicht dazu. Wo verwischten die Grenzen zwischen Realität und Hysterie? Erwachte sie gleich und all das stellte sich als Wahnvorstellung heraus? Lag sie im glühenden Wüstensand, kurz vor dem Verdursten und dem Irrsinn verfallen?
„… und ich muss Maria helfen.“
Der Name Maria holte sie zurück. Wenn es sich in diesem Szenario nur um ihren Vater und sie handeln würde, hätte sie weiterhin angenommen, einer Fantasie erlegen zu sein, aber eine fremde Frau in diesem Gefüge ergab nicht den geringsten Sinn. Irgendwo musste die Wirklichkeit zum Vorschein kommen.
„Was ist mit dir passiert, Dad?“
„Sternchen, reiß dich zusammen. Ich weiß, dass du es kannst. Wir werden die Dinge bald klären können. Steckt der Schlüssel?“
Nevaeh schüttelte den Kopf. Noch immer hielt sie verkrampft den Fernlichthebel fest. Maria stöhnte.
„Schau ins Handschuhfach.“
Sie riss die Klappe auf, durchwühlte das Innere. Nichts. Als sie aufschaute, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die einige Yards entfernte Wand. Nevaeh deutete darauf. „Dort!“ Sie zeigte auf ein großes Schlüsselbrett.
Dad beschleunigte seine Schritte. „Es stehen Kennzeichen unter den Haken.“ Er drehte sich in ihre Richtung. „Ich kann allerdings gegen die Scheinwerfer das Nummernschild nicht lesen.“
Nevaeh stieg aus. Mühselig entzifferte sie im schwachen Schimmer der aus dem Fahrzeug dringenden Innenbeleuchtung die Buchstaben und Ziffern, rief sie ihm zu und beeilte sich, wieder einzusteigen. Sofort ließ sie das Licht aufflammen.
„Ich hab ihn.“
Der Triumph in Dads Stimme raubte ihr für einen Moment den Atem. Eine Woge Adrenalin durchspülte ihren Körper. Es tat so gut, ihn wiederzuhaben. „Rasch, Dad. Lass uns Maria …“
Er legte eine Hand an ihre Wange und streichelte sie. „Maria wird es nicht schaffen. Ich muss ihr auf andere Art helfen.“
„W… was … wie?«
„Bitte, Sternchen, vertrau mir. Flieh ohne uns. Hol Hilfe!“ Er sank auf die Knie und beugte sich über Maria.
Niemals! Niemals würde sie diese Garage verlassen ohne Dad an ihrer Seite. Und bedeutete es ihren Untergang – sie würde sich nicht von ihm fortbewegen, selbst wenn die Welt zusammenstürzte.
„Dad … was …“
Nevaeh traute ihren Augen nicht. Ihr Vater ratschte sich mit einem Schraubendreher, den er von dem Wandboard mitgebracht haben musste, die Pulsader seines linken Arms auf. Blutstropfen quollen hervor, liefen über seine Handfläche und den
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