Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
sie Reynolds erblickt, stürzten sich einige von ihnen auf ihn wie die Geier, gefolgt von ihren Kameraleuten. Sie hielten ihm ihre großen Mikrofone mit den Logos der Fernsehsender und Radiostationen unter die Nase, obwohl die meisten ihn gut genug kannten, um zu wissen: Ihm etwas zu entlocken war ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen.
» No comment , ich werde keine Erklärung abgeben«, lautete dann auch seine Antwort. »Ich kann lediglich bestätigen, dass mehrere Personen erschossen aufgefunden wurden. Aber die Ermittlungen unterliegen während der Beweiserhebung der Geheimhaltung. Sobald es Neuigkeiten gibt, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden dürfen, wird unsere Pressestelle Sie informieren«, fügte er hinzu und beschleunigte seinen Schritt. Als er seinen Dienstwagen erreichte, riss er schnell die Tür auf. Weitere Journalisten kamen bereits herbeigerannt.
»Ist bei der Tatortbesichtigung etwas herausgekommen?«, fragte eine Frau, als er gerade einsteigen wollte. »Stimmt es, dass es sich um Italiener handelt?«, rief sie beharrlich und stieß ihm das Mikro unters Kinn. »War es die Mafia?« Er antwortete nicht und knallte verärgert die Tür zu. Der Fahrer fuhr mit quietschenden Reifen los. Die Kameraleute filmten das Heck des Wagens, bis dieser zur Madison Avenue abbog.
Es war 17.40 Uhr.
Der Abend senkte sich langsam über die Stadt.
Auch die letzten Marathonläufer hatten längst das Ziel im Central Park erreicht, und die Zuschauermenge zerstreute sich in den Straßen.
Das Leben ging wieder seinen gewohnten Gang.
Aber nicht für alle.
Weniger als eine Stunde später befand sich Angela Prestipino, geborene Fedeli, in den Diensträumen des 17. Reviers.
Sie saß auf einem Armstuhl im Wartebereich und blätterte in einer Zeitschrift, die sie aus dem Stapel der am wenigsten zerknitterten auf dem Tisch herausgesucht hatte. Ihre Augen blieben an einem Artikel über neue Kanäle des Drogenhandels hängen. Sie war in die Lektüre vertieft, als ihr Name aufgerufen wurde. Sie legte die Zeitschrift hin und erhob sich.
Der Lieutenant legte gerade den Hörer auf. Er hatte zwei Telefonate geführt, gleich nachdem er ins Büro zurückgekehrt war: das erste mit seinem Vorgesetzten, dem Leiter des Reviers, das zweite mit der Pressestelle.
Während sie sich setzte, sah sich Angela Prestipino um,dann faltete sie die Hände über den Knien, richtete ihren Blick auf den Lieutenant und wartete, dass er anfing.
Reynolds fühlte sich taxiert und begann sogleich, ihr Fragen zu stellen. Zuerst nur ganz allgemeine.
Es war 19.45 Uhr, als die Frau ihren Namen und ihre Adresse für das Protokoll nannte und dann völlig gleichmütig angab, dass sie mit Alfredo Prestipino verheiratet sei und mit ihm eine gemeinsame Tochter namens Maria habe.
»Sie haben sie bereits kennengelernt, Lieutenant. Wir haben sonst keine Kinder«, ergänzte sie. Sie sagte aus, dass sie und ihr Mann ihr Heimatdorf in Kalabrien in den Achtzigerjahren verlassen hätten und gemeinsam mit ihrem Bruder Rocco nach Amerika ausgewandert seien.
»Bei uns gab es keine Arbeit, verstehen Sie, und mein Mann hat keine Familie mehr. Seine Eltern sind bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als er zwei Jahre alt war«, erklärte sie.
Reynolds formulierte seine Fragen deutlich, aber dennoch taktvoll und mit dem gebotenen Respekt.
»Wann haben Sie Ihren Bruder Rocco zum letzten Mal gesehen?« Er blickte ihr in die Augen. Jetzt war er es, der sie musterte.
»Vorgestern, am Freitag, als wir zusammen zu Abend gegessen haben.«
»Ist Ihnen etwas an ihm aufgefallen, war er irgendwie anders als sonst, merkwürdig?«
»Nein. Mein Bruder war ruhig und ausgeglichen wie immer.«
»Lebte er mit einer Frau zusammen?«
»Nein. Er lebte allein. Abgesehen vom Personal.«
»Hatte er Ihres Wissens irgendwelche Probleme?«
»Nein. Das wäre mir bekannt. Ich war nicht nur seineSchwester, sondern auch seine Vertraute. Ich bin die Älteste von uns.«
»Sie haben also keine Idee, wer einen Grund gehabt haben könnte, Ihre Brüder zu töten?«
»Nein. Wer sie umgebracht hat, soll bei lebendigem Leib in der Hölle schmoren!« Ihr Ton wurde hart, ebenso wie ihr Blick.
»Und wann haben Sie Ihre anderen Brüder das letzte Mal gesehen?«
»Im vorigen Sommer, als wir in Italien waren, in unserem Dorf.«
»Was machten sie beruflich?«
»Dasselbe wie mein Vater.«
»Nämlich?«
»Ackerbau und Viehzucht.«
»Waren sie aus geschäftlichen
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