Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
Sprache hat ihre ganz speziellen Nuancen, und in unserem Beruf muss man präzise sein und sichergehen, dass man richtig verstanden wird.«
Man konnte Ferraras Büro nicht gerade als spartanisch bezeichnen. Einen Teil des Raums nahm der Arbeitsplatz des Commissario mit seinem Schreibtisch ein, daneben gab es noch eine Besucherecke und einen Konferenztisch für Besprechungen mit einigen wenigen, ausgewählten Mitarbeitern. An der einen Wand öffnete sich ein breites Fenster auf den gepflegten, stillen Garten hinaus. An einer anderen hingen jede Menge Erinnerungsstücke: Wappen von verschiedenen europäischen Polizeien, Belobigungen für erfolgreich abgeschlossene Operationen, Erinnerungsplaketten von Kollegen …
Ferrara bestellte erst einmal vier Espresso bei der Kaffeebar im Haus, und während sie warteten, sprachen sie über die Probleme mit dem Terrorismus. Erst ein paar Tage zuvor, am 4. November, waren zwei Terroranschläge in Italien verübt worden, einer in Rom und einer in Viterbo. Bei dem ersten war ein Sprengkörper im Innern einer Videokassette explodiert, die an eine Carabinieri-Station geschickt worden war. Der Kommandant hatte das Päckchen geöffnet und schwere Verletzungen an den Händen und imGesicht davongetragen. Der zweite, auf die gleiche Weise verpackte Sprengkörper war auf dem Postamt von Viterbo entdeckt worden. Zu beiden Anschlägen hatte sich noch niemand bekannt.
»Müssen wir von einer neuen Terrorismuswelle in Italien ausgehen?«, fragte Holley.
»Es handelt sich nicht um Terrorismus im eigentlichen Sinn«, erklärte Ferrara. Inzwischen hatte er aus einem braunen Lederetui eine halbe Toscano-Zigarre geholt und hielt sie unangezündet zwischen den Fingern der rechten Hand.
»Terroristen, echte Terroristen, lassen stets ein Bekennerschreiben folgen. Das war schon immer so. Auch vorigen Monat sind Bombenpäckchen in Rom und in Sardinien aufgetaucht, aber mit den Brigate Rosse haben sie nichts zu tun.«
»Worum handelt es sich dann?«
»Um psychologische Kriegsführung durch künstliche Erzeugung von Spannung, Dottor Holley.«
»Kriegsführung durch künstliche Erzeugung von Spannung?«
»Genau. Italien ist das Land der nationalen Spannungen«, fuhr Ferrara fort, »und auch der Nostalgiker. Sie wissen schon, das Milieu der Anarcho-Revoluzzer … Aber wenn wir uns auf dieses Thema einlassen, finden wir so bald kein Ende«, schloss er die Diskussion ab.
»Gut, wechseln wir das Thema und reden wir übers Essen«, schlug Holley grinsend vor. »Die Kollegen sind total begeistert von der hiesigen Küche, Dottore«, sagte er mit einem Seitenblick zu Hampton.
»Das freut mich zu hören«, erwiderte Ferrara. »Und es wäre mir ein Vergnügen, Sie in den nächsten Tagen einmal zum Essen einladen zu dürfen.«
»Danke, sehr gern«, antwortete Hampton höflich, während sein Blick eine silberne Plakette auf dem Couchtisch streifte, auf der zu lesen stand:
»Dem lieben Dottor Michele Ferrara. In tief empfundener Wertschätzung und Freundschaft. Die Kollegen von der Squadra Mobile Florenz. Florenz, 10. Juli 2002.«
»Ein Abschiedsgruß von meinen Mitarbeitern in Florenz«, sagte Ferrara, dem Hamptons interessierter Blick nicht entgangen war.
Commissario Michele Ferrara hatte die Leitung der Squadra Mobile Florenz seinem Stellvertreter Francesco Rizzo überlassen.
Nach dem Sprengstoffattentat auf ihn am Morgen des 1. Oktober 2001 hatte er Florenz aus »Sicherheitsgründen« verlassen müssen. So lautete die offizielle Begründung; hinzu kam, dass dies für einen höheren Polizeibeamten mit hervorragender Aufklärungsquote in der toskanischen Hauptstadt als nächste Stufe auf der Karriereleiter durchaus üblich war. Ferrara jedoch argwöhnte, dass noch ein anderer Grund dahintersteckte: Er war gewissen Leuten im Polizeipräsidium Florenz einfach zu unbequem geworden. Obendrein konnte er nicht mehr auf die Unterstützung seiner Freundin Anna Giulietti rechnen, der fähigen Staatsanwältin, die einige Tage nach dem Anschlag auf ihn bei einem Mafiaattentat ums Leben gekommen war.
Als er das Telegramm mit der Nachricht von seiner »Entsendung in spezieller Mission« nach Rom gelesen hatte, war ihm sofort der Verdacht gekommen, dass er weggelobt werden sollte. Doch als treuer Staatsdiener, der er war,hatte er sich ohne Zögern gefügt, so wie immer. Schließlich wusste er, dass Vorgesetzte kamen und gingen, während die Institutionen blieben, und er hatte seine Treue dem Staat geschworen und
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