Blutsverwandt: Kriminalroman (German Edition)
Polizeipräsidium von Reggio Calabria Dienst und bearbeitete vor allem Fälle von erpresserischem Menschenraub: die zu dieser Zeit neue Einnahmequelle der ’Ndrangheta.
Jetzt erinnerte er sich wieder an jede Einzelheit. Es war in der Morgendämmerung, er durchsuchte den Hof eines Verdächtigen. Auf einmal war er in einer Schlammpfütze ausgerutscht und wie ein Kartoffelsack in den kalten, ekligen Matsch gefallen. Zwei schmale Hände hatten ihm aufgeholfen. Erstaunt hatte er sich umgedreht. Ein junger Mann stand vor ihm, einer der Söhne des Beschuldigten. Mager, frisches, offenes Gesicht. Ein Ausdruck echten Bedauerns darin. Kein Lächeln. Fürsorglich hatte er ihm miteinem nassen Schwamm den gröbsten Dreck von seiner Tarnuniform gewischt. »Es tut mir leid, Dottore«, sagte er mehrmals leise.
Ferrara glaubte wieder den Geruch aus Heu, Mist und Ziegen zu riechen, der über dem Hof gehangen hatte.
Petra war inzwischen eingeschlafen. Er hingegen fand keine Ruhe.
Dieses Gesicht ging ihm nicht aus dem Kopf, ebenso wenig die dazugehörige Stimme. Er hatte in seinem Büro gesessen, die Tür stand offen. »Darf ich Ihnen guten Tag sagen, Dottore?« Er hob den Kopf und sah einen jungen Mann mit einigen Papieren in der Hand. Der Mann lächelte ihn an. Im ersten Moment erkannte er ihn nicht. »Natürlich dürfen Sie.« Der Unbekannte kam herein, immer noch lächelnd. »Was ist, Dottore, erinnern Sie sich nicht an mich? Dieser Sturz damals, der hat Ihnen Glück gebracht. Ich muss jetzt ins Gefängnis, aber ich hab das nicht verbrochen, was hier steht.« Er erinnerte sich an den Sturz, doch das Gesicht war nicht mehr das eines unschuldigen Jungen. Es war ein lebenserfahrenes Gesicht. »Ich danke Ihnen für das, was Sie damals getan haben. Sie werden dem Staatsanwalt alles erklären können, wenn Sie vernommen werden.« Der Mann verabschiedete sich und ging. Zwei Polizisten hatten ihm Handschellen angelegt und ihn abgeführt.
Dienstag, 11. November
Er wachte auf und sah auf die Uhr. Es war 5.45 Uhr.
Das Licht auf dem Nachttisch brannte noch. Er knipste es aus.
Petra hörte ihn nicht, sie schlief tief und fest. Er beobachtete sie einen Augenblick: den Mund leicht geöffnet, die Haare auf dem Kissen ausgebreitet. Sacht streichelte er ihr über die Wange.
Dann stand er auf. Er verzichtete auf ein Frühstück, um so schnell wie möglich ins Büro zu kommen. Leise verließ er die Wohnung.
In der Dienststelle war noch niemand. Sogar die Kaffeebar im Erdgeschoss hatte noch geschlossen. Er holte sich einen Espresso aus dem Automaten und ging mit dem Plastikbecher in der Hand in sein Zimmer, wo er sich sogleich an die Arbeit machte.
Aus dem Aktenschrank holte er die Ordner aus vergangenen Dienstjahren und stöberte in den Aufzeichnungen. Sie waren zahlreich und alle ordentlich sortiert und abgeheftet. Auf jedem Rücken waren die Dienststelle und das Jahr verzeichnet. Er suchte nach den Akten über die Polizeioperation, die zur Durchsuchung des Bauernhofs geführt hatte.
Beim Blättern stieß er auf einen Brief, den er damals in den Achtzigern erhalten hatte. Er war ihm an diesem Morgen, noch im Halbschlaf, in den Sinn gekommen, abgespeichert in einer Datei seines Gedächtnisses und unterbewusst aufgerufen. An den Absender erinnerte er sich nicht. Vielleicht war keiner angegeben gewesen. Doch der Inhalt war ihm noch gut genug bekannt. Es war eine Drohung, eine unmissverständliche Drohung. Die letzte, die er erhalten hatte, ehe er aus Kalabrien weggegangen war.
Der Brief befand sich in dem Aktenstoß des Jahres 1987 zwischen diversen anderen Dokumenten: Protokollen, Dienstberichten, Notizen, säuberlich ausgeschnittenen und gefalteten Zeitungsartikeln, die sich mit ihm beschäftigten, Fotos von Orten und Personen. Sowie zwei weißen Umschlägen mit schwarzem Rand. Kondolenzschreiben.Auf beiden stand mit unsicherer Hand geschrieben: »An Dottor Ferrara, Polizeipräsidium, Via Santa Caterina, Reggio Calabria«.
Sie trugen den Poststempel derselben Stadt, einmal mit dem Datum 10. 10. 87 und einmal 29. 10. 87. Er machte sie auf. Nichts darin. So hatte er sie damals vor sechzehn Jahren bekommen, und die Situation war immer noch glasklar präsent. Er las seinen Bericht an den Polizeipräsidenten zu diesem Vorfall. Der letzte Absatz lautete: »Ich erlaube mir, zwei der Beweisstücke beizulegen, die wie Beileidsbriefe aussehen und die ich regelmäßig erhalte. Die anonymen Anrufe mit eindeutigen Drohungen gegen meine Person kann
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