Bluttrinker (German Edition)
Frauen aß
sie Lebkuchenherzen aus einer Tüte, trank angerührten Cappuccino und lachte.
Tony kannte Samantha noch nicht lange. Deshalb versenkte sie
sich eine Weile in ihren Anblick, betrachtete sie aus halb geschlossenen Augen,
bis sie glaubte, einen zarten, violetten Schimmer um die Gefährtin wahrzunehmen
- ihre Aura.
Dann legte sie erneut die Karten.
Samantha stand großes Leid bevor, in dieser Nacht. Sie würde nicht sterben,
aber bei Sonnenaufgang würde sie sich wünschen tot zu sein.
Tony hatte eiskalte Hände und Füße. Es hätte sie nicht
gewundert, würden ihre Zähne klappern.
„Was wird denn sonst passieren?“, drängte Maike.
„Tony, du siehst furchtbar aus! Hast du ein Gespenst gesehen?“
Samantha war unbemerkt zu ihr getreten und blickte ihr über die Schulter.
„Ich kenne mich damit nicht besonders gut aus“, bemerkte Arnes Gefährtin. „Aber
das da bedeutet nichts Gutes, oder?“
Mit Mühe unterdrückte Tony den Reflex, die Karten hektisch zusammenzuschieben.
„Ich glaube, sie hat das für dich gelegt“, sagte Maike, als Tony nicht
antwortete.
42
„Was soll das? Willst du mir die Leute scheu machen?“
Lukas hockte auf einer Ecke eines Schaltpults in der Kommunikationszentrale des
Hauptquartiers und blickte missmutig auf Tony hinab. In einem Bürostuhl sitzend
fühlte sie sich von ihrem Gefährten in unangenehmer Weise überragt. Die Luft
surrte von den zahllosen Computern, digitalen Telefonen und Bildschirmen, die
sie umgaben.
„Heute Nacht werden furchtbare Dinge geschehen.“ Sie rang
nach Worten. Ihr war gerade bewusst geworden, dass er sich bisher nie zu ihrem Hobby geäußert hatte.
„Tony“, begann er betont sanft. „Ich weiß, dass du ständig Horoskope erstellst
oder deinen Freundinnen die Karten legst, ob sie Chancen haben, bei irgendeinem
Kerl zu landen. Und dass du Nora berätst, wann der günstigste Zeitpunkt ist,
irgendwelches Grünzeug zu pflanzen. Aber du siehst doch ein, dass es hier um
eine ernste Angelegenheit geht? Ich meine, was ist nur in dich gefahren? Wir
alle stehen unter einer großen Anspannung, besonders die Frauen. Sie haben
natürlich Angst um ihre Gefährten. Was hat dich nur veranlasst, solche
Schauermärchen zu verbreiten?“
Tony zwang die Tränen zurück, die plötzlich in ihre Augen stiegen. Es war ein
denkbar ungünstiger Zeitpunkt, um herauszufinden, dass Lukas rein gar nichts
vom Tarot hielt.
„Das ist alles andere als ein Schauermärchen.“ Wie konnte sie ihn nur überzeugen?
„Ich kann das zufällig sehr gut. Ich mache seit über zehn Jahren Vorhersagen
mit den Karten, und ich habe vom ersten Mal an immer richtig gelegen. Ich habe
mich noch nie getäuscht. – Herrgott noch mal, wie kannst du nur so ungläubig
sein? Ich meine, du bist ein Vampir. Du kannst Gedanken lesen. Man sollte doch
annehmen, dass du ein wenig aufgeschlossener bist, was die feinstoffliche Welt
betrifft.“
„Die feinstoffliche Welt?“ Lukas Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Tony, wir mögen alles Mögliche sein, aber ich weiß , dass an uns nichts Feineres ist, als an jedem greifbaren Ding. Wir unterliegen den Naturgesetzen, wie jedes
andere Wesen auch. Wovon wir hier reden, ist der Unterschied zwischen
Freizeitunterhaltung und Realität. Und was das Letztere betrifft, bin ich
eindeutig auf Seiten von Newton und Einstein zu finden.“
Tony legte den Kopf zur Seite und sah ihn nur an.
„Das ist mein Ernst, Tony! Der einzige Unterschied ist, dass die Aspekte der
Naturgesetze, die unsere Existenz bestimmen, noch nicht vollständig erforscht
sind. Das hat nichts mit Magie oder irgendwelchem Hokuspokus zu tun. Du musst
doch einsehen, dass es einen Unterschied gibt, zwischen dem erfassen der
Gedankenströme anderer Lebewesen und diesem Zigeuner-Hokuspokus.“
Missbilligend deutete Lukas auf die bunten Karten, die auf der hellgrauen
Schreibtischplatte ausgebreitet lagen.
„Ach ja!“ Tonys Augen blitzten wütend. „Und was, du großer Verfechter der
Wissenschaft, hältst du von der Möglichkeit, dass die Gesetze, nach denen ich
Vorhersagen mache, auch nur noch nicht erforscht sind? Du weißt schon: Wenn es
Gedanken lesende, unsterbliche Vampire gibt, könnten ja auch Tarot und
Astrologie funktionieren!“
Lukas wandte den Blick ab und schnaubte ärgerlich. Dass er die
Argumentationsweise, die er selbst einmal angewandt hatte, jetzt am eigenen
Leib zu spüren bekam, stimmte ihn nicht fröhlicher. Zumal er darauf ebenso
wenig eine Antwort parat hatte wie Tony vor
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