Bluttrinker (German Edition)
Erkenntnis beunruhigte ihn tief. Jetzt, da er zu begreifen begann, was auf
dem Spiel stand, mochte es sein, dass Tony ihn nicht mehr haben wollte!
Nachdem die Frauen ihre Mahlzeit beendet hatten, räumte Nora
das Geschirr auf ein Tablett und nutzte die Gelegenheit, sie alleine zu lassen.
„Was werdet ihr jetzt mit mir machen?“ fragte Tony.
„Nichts“, antwortete Lukas.
In der Ferne grollte Donner, doch das Gewitter war noch Kilometer entfernt.
Tony stand auf und ging zur Terrassentür, um das Wetterleuchten zu beobachten.
Der weitläufige Garten leuchtete in geisterhaftem Lichtschein auf.
„Du hast gesagt, ihr müsst meine Erinnerungen löschen. Ich dachte, du wärst gekommen,
um das zu erledigen.“
„Das werd´ ich nicht. Ich will, dass du dich erinnerst.“
Er stand auf und trat hinter sie, achtete aber darauf, genug Abstand zu halten,
um sie nicht zu bedrängen.
„Es tut mir leid. Ich hab dir Angst eingejagt, anstatt dir zu vertrauen. Kannst
du mir verzeihen?“
„Ich verstehe nicht ...“
„Ich möchte dich um etwas bitten. Es ist wichtig.“
Ein Blitz zuckte draußen über den Himmel, überzog fast die Hälfte des Horizonts
mit seinen leuchtenden Armen. Das Donnergrollen rückte näher.
„Ich bitte dich, unser Geheimnis für dich zu behalten.“
Auf Tonys angespanntem Gesicht erschien die Andeutung eines Lächelns. „Ich hab
es Nora schon gesagt. Ich will nicht in der Klapsmühle landen.“
Erneut zerriss ein spektakulärer Blitz die Dunkelheit. Lukas konnte sich nicht
davon abhalten, näher an sie heranzutreten. Beinahe berührte seine Brust ihre
Schulter. Er spürte ihre Wärme.
„Ist das der einzige Grund?“ Seine Stimme klang leichter, neckend. Sie ließ
seine Annäherung zu, entspannte sich sogar in seiner Gegenwart. Er griff an ihr
vorbei und öffnete die Fenstertür, die auf eine geflieste Terrasse
hinausführte.
Der Schwall feuchtwarmer Luft, der in den klimatisierten Raum schwappte,
überzog Tonys Haut fast augenblicklich mit einem Schweißfilm.
„Niemand würde mir glauben. Und wem sollte ich es auch erzählen?“
„Deinen Eltern und Freunden, der Polizei ...“
Tony folgte Lukas hinaus. Nur das Licht, das durch die Fenster fiel, erhellte
die Terrasse. Am Himmel dräuten bedrohlich dunkle Wolken.
„Dass ich einen One-Night-Stand hatte? Wohl eher nicht.“
Lukas erkannte ihre Abwehr als Versuch, ihre Gefühle zu schützen.
„Wer sagt, dass es das war?“
„Was?“
„Ein One-Night-Stand.“
Tonys Puls machte einen Hüpfer und er hörte, wie sie ihren
Atem bewusst ruhig zu halten versuchte. Sie schüttelte den Kopf und blieb am
Ende der gefliesten Fläche stehen, während Lukas einen Schritt auf den
gepflegten Rasen hinaustrat.
„Tu das nicht. Vielleicht hab ich es verdient, weil ich auch
versucht habe ... bitte, mach das nicht. Es ist nicht nötig. Ich werde
niemandem was sagen. Du brauchst nicht so zu tun ...“
Lukas legte seine Hand auf ihre Wange und drehte sanft aber
bestimmt ihr Gesicht zu sich. Durch den Höhenunterschied zwischen Terrasse und
Garten befanden sich ihre Augen auf gleicher Höhe. Der Blitz, der hinter ihm
zur Erde zuckte, spiegelte sich in Tonys tränengefüllten Augen. Plötzlich
wusste er, was er tun musste.
„Du brauchst mir gar nicht zu glauben. Du kannst nachsehen,
ob ich die Wahrheit sage.“ Tonys zweifelnde Miene brachte ihn zum Grinsen. „Du
weißt, dass du es kannst. Leg deine Hände auf meine Schläfen. Stell dir vor,
meine Gedanken wären wie elektrischer Strom. Sie fließen über deine Hände und
Arme von meinem Kopf in deinen.“
So ist es natürlich nicht , hörte Tony Lukas denken, kaum dass ihre
Fingerspitzen ihn berührten, aber es ist eine der einfachsten
Visualisierungen. Das funktioniert bei Anfängern meistens.
Die Vielfalt der Wahrnehmungen, die Lukas Sinne aufnahmen,
war ebenso faszinierend wie verwirrend.
Geräusche, viel zu leise, um von menschlichen Ohren gehört zu werden. Wie der
Flügelschlag kleiner Insekten in der feuchtheißen Luft. Oder die Motoren der
Autos auf der weit entfernten Landstraße. Aber auch Töne in höheren und
tieferen Frequenzbereichen.
Durch Lukas Augen sah Tony Farben an den Rändern des Spektrums, für die
Menschen keine Namen hatten. Am wundersamsten erschienen ihr die ‚Nachtfarben‘,
welche selbst die schwärzeste Dunkelheit noch in zahllose Schattierungen
unterteilten.
Überwältigend waren die Gerüche. So intensiv und vielfältig, dass sie sich in
Lukas Wahrnehmung zu einer Landkarte
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