Blutvertrag
dass ihr das Gute so banal erschienen wäre wie das Böse.
Von ihrer Sehnsucht nach einem bleibenden Geheimnis war sie selbst ziemlich überrascht. Schließlich hatte sie geglaubt, die Romantikerin in ihr wäre bereits vor mindestens sechzehn Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.
Während der Bus sich dem Stadtrand von Dana Point näherte, fragte Tim: »Wer ist Molly?«
Seine Frage jagte ihr einen Schauer über den Rücken, und sie musterte ihn erstaunt.
»Im Hotel hast du im Schlaf gesprochen.«
»Ich spreche nie im Schlaf.«
»Schläfst du denn nie allein?«
»Ich schlafe immer allein.«
»Wie willst du das dann wissen?«
»Was habe ich denn gesagt?«
»Nur den Namen. Molly. Und: Nein. Du hast gesagt: Nein, nein. «
»Das war ein Hund. Mein Hund. Wunderschön. Unheimlich lieb.«
»Und ihm ist etwas zugestoßen.«
»Ja.«
»Wann war das?«
»Wir haben Molly bekommen, als ich sechs war. Sie wurde weggegeben, da war ich elf. Das ist jetzt achtzehn Jahre her und tut noch immer weh.«
»Wieso habt ihr sie weggegeben?«
»Wir konnten sie nicht mehr behalten. Angelina mochte keine Hunde und hat gesagt, wir hätten kein Geld für das Futter und den Tierarzt.«
»Wer ist Angelina?«
Linda blickte hinaus auf die sich auflösende Welt.
»Das Schlimmste an der Sache war eigentlich … Molly war ein Hund. Sie hat nichts begriffen. Sie hatte mich lieb, und ich habe sie weggegeben, und das konnte ich ihr nicht erklären, weil sie eben nur ein Hund war.«
Tim wartete. Zusätzlich zu all den Dingen, die er wusste, ahnte er auch, wann es abzuwarten galt. Das war eine seltene Gabe.
»Wir konnten niemanden finden, der Molly aufnahm. Sie war wunderschön, aber keiner wollte sie nehmen, weil sie nicht irgendein beliebiger Hund war, sondern unser Hund.«
Der Kummer war kein Rabe, der wie bei Edgar Allan Poe hartnäckig auf einer Kammertür hockte. Er war ein Ding mit Zähnen, und obwohl er sich mit der Zeit zurückzog, kehrte er wieder, sobald man seinen Namen flüsterte.
»Ich kann noch immer Mollys Augen in dem Moment sehen, in dem wir sie weggegeben haben. Verwirrt. Ängstlich. Flehentlich. Niemand hat sie bei sich aufgenommen, deshalb musste sie ins Tierheim.«
»Bestimmt hat sie dort jemand entdeckt und mitgenommen«, sagte Tim.
»Das weiß ich nicht. Ich hab es nie erfahren.«
»Es muss einfach so sein.«
»So oft habe ich mir vorgestellt, wie sie in einem Käfig liegt, in einem Zwinger voller trauriger, ängstlicher Hunde. Wie sie sich fragt, wieso ich sie weggegeben habe und was sie wohl getan hat, um meine Liebe zu verlieren.«
Linda wandte den Blick vom Fenster ab und betrachtete ihre Hand, die in der von Tim lag.
Das kam ihr wie eine Schwäche vor, dieses Bedürfnis, sich an ihm festzuhalten, und schwach war sie nie gewesen. Sie wäre lieber tot als ängstlich gewesen in einer Welt, in der man die Schwachen oft nur so zum Spaß quälte.
Merkwürdigerweise fühlte es sich jedoch nicht wie Schwäche an. Aus irgendeinem Grund kam es ihr eher wie eine trotzige Auflehnung vor.
»Wie einsam Molly gewesen sein muss«, fuhr sie fort. »Und falls man sie im Tierheim wirklich nicht weitervermitteln konnte … hat sie da an mich gedacht, als man ihr die Nadel ins Fleisch gestochen hat?«
»Nein, Linda. Nein. So ist es sicher nicht gelaufen.«
»Wahrscheinlich schon.«
»Und falls doch«, sagte er, »dann wusste sie nicht, was die Spritze bedeutete. Sie wusste nicht, was kam.«
»O ja, sie hätte es gewusst. Hunde wissen so etwas. Ich will mir da gar nichts vormachen, dadurch würde es nur noch schlimmer.«
Die Druckluftbremsen schnauften, und der Bus wurde langsamer.
»Von allem, was damals geschah, ist das komischerweise das Schlimmste. Weil niemand anderer von mir erwartet hat, dass ich ihn oder sie rette. Ich war nur ein Kind, aber für die arme Molly war ich mehr als das. Wir waren die besten Freunde. Ich war so wichtig für sie, und ich habe sie im Stich gelassen.«
»Du hast Molly nicht im Stich gelassen«, sagte Tim. »Das hört sich eher so an, als ob die Welt euch beide im Stich gelassen hätte.«
Zum ersten Mal nach über zehn Jahren fühlte sie sich in der Lage, darüber zu sprechen. Offenbar hatte sie ihren ganzen Zorn beim Schreiben ihrer bitteren Bücher aufgebraucht, und vielleicht konnte sie jetzt objektiv und ruhig bleiben. Sie hätte Tim in diesem Augenblick sogar alles erzählen können, was damals vorgefallen war, aber dafür war keine Zeit.
Aus dem überfluteten
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