Blutwind
mit tropfenden Haaren.
»Tja, wenn man dafür einen Kuss bekommt …«
»Ach, Papa.« Sie lächelte, sah geheimnisvoll aus.
»Was ist? Hast du einen Freund?«
Sie schwang ihre Tasche.
»Wollen wir nicht langsam los?«
Eine Dreiviertelstunde später standen sie vor Annas Haus in der Kleingartenkolonie Mozart. Maria klopfte.
»Mein Gott, ihr seid es? Ist es tatsächlich schon so spät?«
Anna war eine große Frau Mitte sechzig, das graue, wuschelige Haar hatte sie sich zu einem schulterlangen Pagenkopf schneiden lassen. Scharfe graue Augen. Lars war der Ansicht, dass ihr Gesicht in all den Jahren, die sie in der Kleingartenkolonie verbracht hatte, runzliger geworden war. Von Wind und Wetter. Nach einer kurzen Umarmung zog Anna sie durchs Haus auf die Terrasse. Ein lockerer Hosenanzug flatterte um ihre sehnige Gestalt.
»Ich habe Weißwein mit Holunderblütensirup.«
Das Haus bestand aus zwei älteren Bauwagen aus Holz, die rechtwinklig nebeneinanderstanden. Die beiden Längsseiten bildeten ein großes offenes V . In einem Flügel befanden sich Bade- und Schlafzimmer, in dem anderen waren die Küche, das Esszimmer und ein Arbeitszimmer untergebracht. Lars hatte es schon immer als klein, aber gemütlich empfunden. Wie ein Ferienhaus. Der Platz zwischen den beiden Flügeln des Hauses bildete die Terrasse. Anna hatte ein Glasdach über dem vorderen Teil bauen lassen, dadurch wurde das Haus erheblich erweitert. Die eigentliche Terrasse bestand aus gebrauchten Eisenbahnschwellen, die sie direkt auf dem Boden verlegt hatte. Man stand etwas unsicher. Die wackligen, rostigen Gartenmöbel passten zu dem schiefen Eigenbau.
»Wie schön, euch zu sehen.« Anna schenkte ein, sie prosteten sich zu. Lars ließ den Blick über den kleinen Garten gleiten – verwildert und ungepflegt, so wie seine Mutter ihn wollte.
»Es ist auch schön, dich mal wiederzusehen, Oma.« Maria hatte einen ganz fremden Glanz in den Augen.
Über dem Dach des Nachbarhauses ging die Sonne unter, Licht tropfte aus den Blättern der krumm gewachsenen Birke, die sich über die Terrasse wölbte. Die blasse Sommerwolkendecke war verschwunden, als er geschlafen hatte. Es roch nach Gras und Blumen in dem kleinen Garten. Irgendwo in der Nähe wurde ein Grill angezündet. Etwas weiter entfernt spielte jemand Gitarre. Es klang nicht sonderlich schön.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Maria und Anna still dasaßen und ihn anstarrten.
»Was ist?«, fragte er.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Maria. »Papa hat die ganze Nacht gearbeitet. Erst heute Nachmittag konnte er ein paar Stunden schlafen.«
»Geht es um diese Vergewaltigungsgeschichte?«
Lars nickte, nippte noch einmal am Wein. Er musste aufpassen. Er hatte kaum geschlafen. Viel vertrug er nicht.
»Leider ja. Heute Nacht gab es ein neues Opfer. Wir haben einen Verdächtigen in Untersuchungshaft, aber wir warten noch auf die Ergebnisse von Proben, bevor wir Anklage erheben können.«
Maria schüttelte sich.
»Uh, ich finde das unheimlich.«
»Ja«, sagte Anna, »das ist wirklich kein Gesprächsthema. Was sagt ihr zu Hühnchen mit neuen Kartoffeln und meinem guten Bohnensalat?«
Nachdem sie auf der Terrasse gegessen hatten, ging Maria ins Haus, um Annas Regal zu durchstöbern. Sie hatte eine unglaubliche Menge an Nippes: Figuren, lustigen Kram und kleine Skulpturen, die sie aus Materialien bastelte, die sie auf ihren zahlreichen Reisen fand. Außerdem war Anna eine eifrige Fotografin. Einige Fotogalerien hielten viel von ihren Fotografien. Und sie hatte sehr viele Bücher. Maria konnte stundenlang darin schmökern.
Lars und Anna blieben am Tisch sitzen. Er zündete sich eine Zigarette an, Anna stützte die Ellenbogen auf den Tisch und blickte in ihr Weinglas. Plötzlich hob sie den Kopf.
»Weißt du überhaupt, wie sehr sie dich vermisst hat?«
Lars streifte die Asche im Aschenbecher ab, schob das Messer auf seinem Teller herum.
»Sie war beschäftigt …«
»Sie war damit beschäftigt herauszufinden, was eigentlich vor sich geht.«
»Ich habe darüber mit Elena diskutiert. Ich schaff es nicht …«
»Wir reden hier über dein Kind. Und du verschwindest einfach.«
Er wollte sich nicht streiten und schon gar nicht, wenn Maria nebenan saß. Aber jetzt wurde er wütend.
»Ich bin verlassen worden. Ich …«
»Aber du bist der Erwachsene … oder solltest es vielmehr sein. Deine Tochter hingegen …«
Jetzt kam sie, die Wut. Eine Sturmflut, die alles mit sich zu reißen drohte.
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