Blutwind
glücklich darüber, aber ich habe keine andere Wahl. Diese Sache betrifft das gesamte Korps.«
Sanne erwiderte nichts, betrachtete nur Kim A . durch halb geschlossene Augen.
Eine irritierte Grimasse verzog Ulriks Gesicht, seine dünnen Finger trommelten auf die Schreibtischplatte.
»Lars wird der Fall bis auf Weiteres entzogen. Kim A . übernimmt mit augenblicklicher Wirkung. Ich habe dich dazugebeten, weil … du im Augenblick die Einzige bist, mit der er redet …«
Sanne blinzelte, ihr lag eine gepfefferte Antwort auf der Zunge. Aber was sollte sie machen? Sie nickte, akzeptierte die Judas-Aufgabe. Gehorchte. Wie immer. Sie versuchte, im Kopf einen Satz zu bilden. Was würde sie Lars sagen, sollte sie ihn erreichen? Der Satz fiel immer wieder auseinander.
Ulrik legte eine Hand auf Kim A .s Schulter.
»Komm. Wir briefen jetzt die anderen.«
Sanne ließ sich in ihrem Büro auf den Stuhl fallen. Was war hier los? Und was hatten Lars und sie gestern vorgehabt?
Sie griff nach dem Telefon, wählte Lars’ Nummer. Komm schon, murmelte sie, während der Piepton in ihrem Schädel dröhnte. Sie unterbrach den Anruf, als Lars’ Stimme den Anrufbeantworter ankündigte, und knallte den Hörer auf.
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Allan stürmte herein. Ein breites Grinsen teilte sein Gesicht in zwei Hälften.
»Die Techniker haben gerade angerufen. Meritons und Ukës Lieferung ist gekommen, bei Strandhuse, südlich von Stevns. Genau wie du es vorhergesagt hast.«
4. Mai 1945
»In diesem Moment erreicht uns die Mitteilung Montgomerys, dass sich die deutschen Truppen in Holland, Nordwestdeutschland und Dänemark ergeben haben. Hier ist London. Wir wiederholen: Montgomery hat in diesem Augenblick mitgeteilt, dass sich die deutschen Truppen …«
Die Wehen peinigen sie. Der Körper stemmt sich in einem Bogen über dem Lager aus Munitionssäcken. Die Stimme schwatzt weiter in einer anderen Welt. Erst nach einer langen Zeit, zwischen zwei Wehen und dem Jubel und Schießen draußen, versteht sie: Der Krieg ist vorbei, die Deutschen haben sich ergeben.
Doch für sie ist alles schon seit Monaten vorbei. Ihr John ist tot. Und Mutter schwand im Winter leise dahin. Zum Schluss war nichts mehr von ihr geblieben. Die Tochter hat der Vater im Keller versteckt, als der Bauch sich nicht mehr kaschieren ließ. Verborgen, umhüllt von Staub und Waffenfett. Wenn sie sich konzentriert, kann sie noch immer die letzten Reste von Johns Duft ahnen, das Letzte, was ihr von ihm geblieben ist. Das und die Augen im Glas auf dem Regal über ihr. Zwei weißliche Klumpen, die in einer gelblichen Flüssigkeit schweben, blind und stumm in einem seltsamen Tanz.
Die Schießereien draußen kommen jetzt näher, verschwinden wieder. Noch eine Wehe kündigt sich an, drückt auf die Lenden und das Schambein. Sie wird zu einer einzigen pumpenden Blutader. Verschwindet in Schmerzen.
Als sie wieder zu sich kommt, ist sie schweißnass. Jemand hat das Radio abgestellt. Die Petroleumlampe flackert auf dem Tisch in der Ecke, ihr unruhiges Licht streichelt die Maschinenpistole auf der Tischdecke.
Vater betrachtet sie mit fieberheißen Augen. Bald ist es überstanden, sagt er. Es ist ein großer Tag. Dann kehren die Wehen zurück, und alles verschwindet wieder.
In den nächsten Stunden schwankt sie zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit, sie hört sich selbst schnauben wie eine fohlende Stute. Als Vater zurückkommt, bringt er Neuigkeiten aus der Welt draußen. Überall sind Hipo-Männer und Kollaborateure. Sie kämpfen am Rathaus, deutsche Soldaten und Hipo-Leute. Er war am Brogårdsvej an einem Gefecht mit einer Gruppe beteiligt. Arno wird sie nicht mehr belästigen, er sagt es gleichsam in einem Nebensatz. Sie weiß, dass sie nicht fragen soll.
Etwas ist unterwegs, gleitet durch sie hindurch, will zwischen ihren Beinen heraus. Die Schmerzen verschwinden, alles verschwindet, es sprengt sich seinen Weg frei. Mit einem grässlichen Geräusch reißt sie. Als sie aufblickt, steht Vater zwischen ihren Beinen. Etwas Feuchtes und Lebendiges bewegt sich auf ihrem Bauch. Blut und Fruchtwasser fließen durch das blutgetränkte Hemd. Winzige Händchen greifen, öffnen und schließen sich um nichts. Ein kleiner begieriger Mund sucht, saugt blind in der leeren Luft. Vaters grobe Hände kommen dazu, reißen ihr Hemd auf, finden die Brust und schieben das Lebendige dorthin. Sie keucht, als der Kleine zubeißt, sich festsaugt. Und mit gierigen,
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