Blutzeichen
Telefon im Speisesaal anrufen.
Dieser Mann ist seit sieben Jahren auf der Flucht. Er ist ein Monster. Er ist verzweifelt. Vermutlich bewaffnet. Atme, Vi, atme. Du bist dafür ausgebildet worden. Du schaffst das.
Sie öffnete das Holster, ergriff die .45er und lud sie. Dann atmete sie dreimal tief durch, wartete zwanzig Sekunden und hoffte so, das Zittern ihrer Hände in den Griff zu kriegen.
Sie umklammerte die Waffe mit der rechten Hand, ließ sie in ihre Jacke gleiten und ging zur Tür.
Vi öffnete sie einen Spalt und blickte durch den Speisesaal in den Wintergarten.
Ihr wurde flau.
Andrew Thomas hatte seinen Tisch verlassen.
Sie öffnete die Tür und ging auf den Wintergarten zu.
Irgendetwas warf sie zurück in den Toilettenraum und drückte sie gegen die Wand.
Alles schien in Zeitlupe abzulaufen und in surreale Fragmente zu zerfallen: wie die Tür zuging, das Licht ausgeschaltet wurde, wie sie versuchte zu schreien, obwohl ihr der Mund zugehalten wurde, wie sie nach der Waffe griff (die nicht mehr an ihrem Platz war), wie der kalte Lauf ihres Revolvers hinter ihr linkes Ohr gedrückt wurde, wie sie die Lippen am rechten Ohr spürte und wie sie das Flüstern kaum verstehen konnte, weil sie so laut hyperventilierte.
»Haben Sie irgendjemand angerufen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie wissen, wer ich bin?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Lügen Sie mich nicht an.«
Sie nickte.
»Legen Sie Ihre Hände auf den Rücken. Wenn Sie schreien, werden Sie diese Toilette nicht lebend verlassen.«
Andrew Thomas fand die Handschellen in ihrer Jackentasche und fesselte ihre Hände hinter ihrem Rücken.
»Wie heißen Sie?«
Sie musste einen Moment darüber nachdenken.
»Violet.« Ihre Stimme klang so fremd, als gehöre sie nicht zu ihr.
»Wir werden jetzt hier gemeinsam rausgehen, Violet.«
Er kramte in ihrer Tasche und fand ihre Autoschlüssel.
»Welcher gehört Ihnen?«
»Der Jeep. Ich bin Detective. Sie kriegen eine Menge Ärger, wenn – «
»Ich habe bereits jede Menge Ärger. Wenn wir draußen sind, öffne ich Ihnen die Tür. Sie setzen sich ans Steuer.«
Ihre Hände wurden taub, während ihr Andrew Thomas den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn hochzog. In der Dunkelheit spürte sie, wie der Lauf der .45er in ihre Rippen gedrückt wurde.
»Spüren Sie das? Falls irgendetwas schief läuft, gehört die erste Kugel Ihnen. Die anderen sind für alle, die sich mir in den Weg stellen, egal wer es ist, und deren Blut wird an Ihren Händen kleben. Ich möchte niemandem wehtun, aber ich werde es ohne Zögern tun, denn ich habe nichts zu verlieren. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Sir.«
Er öffnete die Tür und stieß sie raus.
Während sie durch den Speisesaal gingen, legte Andrew seinen Arm um sie.
Vi schaute stur geradeaus und betete, dass Scottie Myers oder eine der Kellnerinnen in der Nähe der Ausgangstür stehen würden. Sie würden die Angst in ihren Augen sehen und verhindern, was hier geschah.
Sie weinte inzwischen und betete: Bitte lieber Gott, lass jemanden am Tresen stehen!
Sie hörte in der Küche Gelächter, lautes, fröhliches Gelächter, aber niemand sah sie mit Andrew Thomas die Stufen hinab und hinaus in den kalten Regen gehen.
Das Vorherwissen ihres drohenden Todes war die schlimmste Wahrheit, der sie sich je gestellt hatte. Sie bekam weiche Knie und fiel mit einem Aufschrei hin, als Andrew sie zu dem Cherokee schleifte und sie durch die Hose spürte, wie der nasse Asphalt ihr die Knie aufschürfte.
Sie hatte fürchterlich versagt und würde bald dafür bezahlen, genau wie Elizabeth Lancing und alle zukünftigen Opfer von Andrew Thomas.
Erst als sie ihren baldigen Tod vor Augen hatte, stellte sie fest, dass sie das für sich nie in Erwägung gezogen hatte. Sterben war etwas, was anderen Menschen widerfuhr. Den Unglückseligen und den Alten.
Doch jetzt glaubte sie daran, denn wenn sie erst mit Andrew Thomas in den Jeep eingestiegen war, würde sie nie jemand Wiedersehen. Letztes Jahr hatte sie einer Klasse High-School-Schülern erzählt, dass sie sich mit allen Mitteln wehren müssten, um nicht in das Auto eines Angreifers gezerrt zu werden. Sie hätte Andrew Thomas dazu veranlassen sollen, sie direkt hier auf dem Parkplatz zu erschießen.
So kletterte sie mit der Waffe im Rücken, genau wie es die meisten Menschen unter diesen Umständen taten, in ihren Wagen – weil sie Angst hatte, weil sie nicht die Nerven hatte, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, auch wenn eine Fahrt
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