Blutzeichen
lief.
Das Meer war aufgewühlt.
Es schlug das Boot gegen das Gebälk des Stegs.
»Bis morgen Nachmittag«, sagte ich.
»Hoffentlich. Lassen Sie mich Ihrer Frau hinaufhelfen. Ich muss zum Hafen zurück, bevor es noch schlimmer wird.«
»Mr Tatum, nur eine Sekunde. Diese Gebäude der alten Stadt sind in öffentlichem Besitz, oder?«
»Ja. Sie gehören dem Nationalregister für historische Orte.«
»Kennen Sie die gesamte Insel?«
»Zumindest den größten Teil.«
Ich schaute auf Violet. Sie hatte sich nicht bewegt.
»Ich suche nach irgendeiner Hütte, eine, die immer noch in Privatbesitz ist. Ich glaube nicht, dass sie zur Ortschaft gehört.«
»Also, es gibt da noch ein paar Jagdhütten hinter dem mittleren Teil der Ruinen.«
»Wo?«
Charlie zeigte das Ufer entlang.
»Die Ruinen sind etwa eine halbe Meile südlich von Haulover Point.«
»Wo ist Haulover Point?«
»Sie stehen drauf. Am Ende des Stegs können Sie den Pfad sehen. Ich kann nicht glauben, dass Sie bei diesem Sauwetter zelten.«
»Sehen Sie, ich muss in drei Tagen wieder auf der Arbeit sein. Ein Jahr lang hab ich diesen Ausflug geplant, da kann ich mir nicht den Luxus erlauben, den Sturm abzuwarten.«
Er grinste, schüttelte den Kopf und wischte sich das Regenwasser aus den Augen.
»Nun, sie sieht nicht sehr glücklich darüber aus.«
»Nein, Angie wäre lieber in der Pension geblieben. Kommen Sie heil nach Hause.«
Charlie klopfte mir auf die Schulter und trat an mir vorbei an die Stegkante.
Die Kommissarin stand klapprig und zitternd auf.
»Kann ich Ihnen helfen, Schätzchen?«, fragte der alte Seemann.
Violet stand am Ende des Stegs und beobachtete, wie das Boot wieder im aufgewühlten Meer verschwand. Der Wind übertönte schnell das Stöhnen des Motors und schon bald war nur noch der Sturm zu hören – Wellen, die ans Ufer schlugen, Regentropfen, die auf das morsche Holz unter unseren Füßen prasselten.
»Wir müssen los«, sagte ich.
Die junge Frau drehte sich um, starrte mich an und fing wieder an zu weinen. Dann lief sie los und ich folgte ihr den langen Steg entlang.
Wir traten vom Steg auf einen sandigen Pfad und gingen an einer schmalen Bucht vorbei. In einiger Entfernung waren die heruntergekommenen und zum Teil verfallenen Gebäude durch die verkrüppelten Kiefern zu sehen.
Nasses Dünengras bog sich und raschelte, während es überall um uns herum wogte.
Violet ging schnell.
Ihre Stiefel platschten durch die Pfützen.
Sie schluchzte.
Der Pfad verzweigte sich. Wir konnten nach Süden weiter ins Innere der Insel vordringen oder links an der Bucht vorbei hinein in die Geisterstadt gehen.
Violet blieb stehen und sah mich an. Sie konnte nicht aufhören zu zittern.
»Mir is-s-t s-s-s-o kalt.«
Wir mussten weiter in Richtung Süden zu den Ruinen des mittleren Ortes gehen, doch ich bezweifelte, dass Violet die Kraft dazu hatte. Sie sah halb erfroren aus.
Durch die Kiefern sah ich im Ort einen kleinen Kirchturm.
»Wir wärmen dich erst mal auf«, erklärte ich.
Wir überquerten eine Brücke und gingen auf die Kirche zu. Es regnete jetzt so stark, dass ich außer dem unablässigen Prasseln auf meiner Kapuze nichts hören konnte. Ich sah auf meine Uhr. Vier Uhr. Die Dämmerung würde unter dieser undurchdringlichen Wolkendecke vorzeitig hereinbrechen.
In einer der Broschüren hatte es geheißen, die Ortschaft auf Portsmouth sei »malerisch« und »bezaubernd«, doch davon war jetzt nichts zu spüren. Vielmehr wirkte sie wie ein trostloser Friedhof, der seinen endgültigen Todeskampf ausfocht. Hätte ich die Insel an einem angenehmen Sommernachmittag als sorgloser Tourist besucht, wäre mein Eindruck vielleicht etwas freundlicher ausgefallen. Doch nun schien es, als würden wir eine Leichenstadt betreten, von denen einiges zurechtgemacht und mit frischer Farbe einbalsamiert worden war, die Mehrheit jedoch war der Verrottung, dem Zerfall und der Überwucherung durch Dünengras preisgegeben.
Ich überlegte, warum Leute wohl hierher kamen und was sie zu sehen hofften. Diese Ruinen bargen keinerlei Geheimnis oder Erklärung. Städte gehen unter. Menschen ziehen weg. Sie sterben. Ihre Behausungen zerfallen. Das ist die Geschichte, der einzige Erzählstrang, den es je geben wird. Hier steht das Haus von Samuel Johnson. Er war ein Schuster. Er starb 1867. Und auch du wirst sterben. Na und? Das ist nichts Neues, sondern der Lauf der Dinge.
Wir kamen vor den Stufen der Methodistenkirche an, einer kleinen Kapelle im
Weitere Kostenlose Bücher