Blutzeichen
aus, ertastete die Wand und ging auf den Gang hinaus. Die Dunkelheit veränderte sich nicht im Geringsten. Horace tastete nach der Wand und kroch vom Nebenraum und der Treppe weg, indem er sich ganz dicht an der linken Seite des Tunnels voranarbeitete.
Nach zehn Schritten endete die Wand. Er drehte sich um und stellte fest, dass er beide Seiten berühren konnte.
Er stand an der Gabelung.
Er starrte so angestrengt zurück durch die schwimmende Dunkelheit in Richtung Nebenraum, dass ihm seine Augen Streiche spielten und falsche Lichtblitze aussandten.
Die Stille toste.
Er lauschte angestrengt, meinte Dinge zu hören – Stimmen, Schritte –, aber vielleicht war es auch nur sein Herz, das bis zum Trommelfell schlug.
Als er den Schein einer Laterne auf der Mauer sah, traute er seinen Augen nicht. Doch die Schatten waren echt, genau wie der Klang schlurfender Schritte und die Silhouette einer gebeugten alten Frau, die in einer Biegung des Tunnels auftauchte.
Horace schlich zurück in den anderen Gang.
Die Stimme, die er hörte, war leise, sanft und völlig entwaffnend.
»Rufus und ich haben etwas gehört. Wollt ihr mir nicht sagen, was es war?«
»Wir haben nichts gehört«, erwiderte Andrew.
»Nein?«
Die alte Frau lachte. Horace schaute vorsichtig um die Ecke und sah die alte Frau im Bademantel und Pantoffeln auf der Schwelle zum gewölbten Nebenraum stehen, der Feuerschein der Laterne tanzte auf ihrem faltigen Gesicht.
»Nun, das ist das Komischste, was ich seit langem gehört habe, denn die Tür unter der Treppe war offen. Wie, glaubt ihr, könnte das passiert sein?«
»Wir haben nichts gehört«, erwiderte Andrew. »Ich habe ge-«
»Das ist jetzt auch egal«, erklärte die alte Frau. »Luther hat die Tür verschlossen, also kann keiner hier raus. Er und Rufus durchsuchen gerade den Keller. Rufus kennt ihn so gut, dass er kein Licht braucht.«
Die alte Frau drehte sich um und ging in Richtung Treppe davon. Sie nahm die Laterne mit und ließ Horace allein in der Dunkelheit zurück.
56. Kapitel
Ich werde in meinem Zimmer im Harper Castle erwachen.
Es wird warm sein.
Die Sonne wird über dem Hafenbecken glitzern.
Ich werde mich anziehen und hinaus in den kühlen Morgen spazieren.
Ich werde zur Ocracoke Coffee Company gehen.
Ich werde morgen beim Frühstück diese Szene zu Papier bringen.
Und wenn die hübsche Kassiererin da ist, werde ich mit ihr reden.
Ihr erzählen, dass ich Schriftsteller bin.
Sie bitten, mit mir auszugehen, da ich das noch nie getan habe, und nach heute Nacht, was gibt es da noch zu fürchten?
Horace ließ die Eisensäge fallen und zog die Schulterriemen seines Rucksacks fester.
Er saß an die Steinmauer gelehnt.
Sein ganzer Körper zitterte, und je stärker er sich das Gegenteil einredete, desto klarer wurde ihm, wie tief er in der Scheiße steckte. Ein solches Ausmaß an Angst hatte er bislang nicht gekannt. Die Angst schien sein Innerstes zu umhüllen wie geschmolzenes Silber. Und das Schlimmste war das Wissen, dass er aus eigenem Antrieb hierher gekommen war und sich selbst so tief reingeritten hatte.
Er glaubte, weiter unten im Gang Schritte auf dem Lehmboden zu hören.
Horace erhob sich.
Die Schritte hielten inne.
Jemand atmete aus.
Er lauschte angestrengt.
Es schien, als summte die Stille in der Dunkelheit, doch er wusste, dass dies nur das Blut zwischen seinen Ohren war.
An der Decke ging ein Licht kurz an und wieder aus.
So kurz, dass ein Blinzeln ausgereicht hätte, um es zu verpassen.
Doch das hatte er nicht.
Und in der halben Sekunde, in der das Licht geschienen hatte, hatte er die Tunnelwände, den Boden, eine Axt und ein Gewehr gesehen und keine fünf Meter entfernt zwei Männer, die sie hielten – der eine alt, der andere jung – und ihn angrinsten.
Aus der Dunkelheit heraus kam eine Stimme.
»Was glauben Sie, was Sie hier tun, junger Mann?«
Horace konnte kaum atmen.
»Ich habe Andrew Thomas verfolgt.«
»Wer sind Sie?«
»Horace Boone.«
Horace ging langsam rückwärts in den Tunnel hinein, während sie sprachen.
»Ich habe Andrew Thomas letztes Jahr im April in einer Buchhandlung in Alaska gesehen.« Er kämpfte mit den Tränen. »Ich habe ihn verfolgt, weil ich ein Buch über ihn schreiben will. Ich schwöre, das ist auch schon alles. Ich habe in meinem Rucksack ein Notizbuch, das kann es beweisen.« Am Ende versagte seine Stimme.
»Sind Sie zu Fuß hierher gekommen?«
»Ich habe mein Auto zwischen den Bäumen bei Ihrem
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