Bodenlose Tiefe
wissen.«
»Und sie hätte Ihnen ohnehin nichts gesagt. Sie würde niemals irgendwas preisgeben, was ich ihr in einer unserer Sitzungen anvertraut habe. Sie nimmt die Schweigepflicht sehr ernst.
Außerdem ist sie meine Freundin.«
»Es war ein Schuss ins Blaue. Ich hatte gehofft, vielleicht mit Bestechung zum Ziel zu gelangen.«
»Niemals«, zischte Melis. »Carolyn ist einer der integersten Menschen, denen ich je begegnet bin. Sie ist intelligent und klug und warmherzig und sie gibt niemals auf. Selbst bei mir hat sie nicht aufgegeben. Gott, wenn ich eine Schwester hätte, dann wünschte ich, sie wäre wie Carolyn.«
»Das sagt ja eine Menge über sie aus. Mochte Lontana sie?«
»Er kannte sie kaum. Er hat sie für mich ausfindig gemacht, aber er hatte nicht viel mit ihr zu tun. In ihrer Gegenwart war er immer ein bisschen verlegen. Mit Psychologen wollte er nichts zu tun haben. Aber er hatte es versprochen und deswegen hat er dafür gesorgt, dass ich regelmäßig hinging.«
»Er hatte es Ihnen versprochen?«
»Nein, Kern –« Sie redete zu viel. Das alles ging ihn einen feuchten Kehricht an. Vor lauter Panik und Verzweiflung plapperte sie schon drauflos wie ein Kind.
»Der Polizist, mit dem ich gesprochen habe, war sehr besorgt.
Carolyn ist eine geachtete Persönlichkeit. Vielleicht haben sie sie ja schon gefunden, wenn wir ankommen.«
»Möglich.«
»Sie klang so – Sie war einfach nicht sie selbst.« Ihre Stimme zitterte und sie unterbrach sich, um ihre Fassung wiederzugewinnen. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie stark diese Frau ist. Als ich anfangs zu ihr in Behandlung ging, war es, als ob – Bis dahin hatte ich mir noch nie in meinem Leben erlaubt, mich bei jemandem anzulehnen. Sie hätte das ausnutzen und mich von ihr abhängig machen können, aber das hat sie nicht getan.
Sie hat nicht zugelassen, dass ich die Verantwortung an sie abgab. Sie hat mir einfach die Hand gereicht und mir versichert, dass sie immer für mich da sein würde, wenn ich sie brauchte.
Und sie hat ihr Wort immer gehalten.«
»Soweit ich weiß, kann das Verhältnis zwischen Therapeut und Patient sehr eng werden.«
»So war es nicht. Nach einigen Jahren ist sie meine beste Freundin geworden.« Sie lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. »Als sie anrief … Ihre Stimme … Ich glaube, sie hatte starke Schmerzen.«
»Das wissen wir nicht. Aber wir werden es herausfinden.« Er legte seine Hand auf ihre. »Machen Sie sich nicht zu viele Sorgen.«
Er schloss keine Möglichkeit aus noch legte er sich auf eine fest. Sie hätte ihm sowieso nicht geglaubt, wenn er es darauf angelegt hätte. Aber seine Berührung war warm und tröstend und sie versuchte nicht, ihre Hand wegzuziehen. Im Moment brauchte sie Trost, egal woher er kam.
Gott, sie hoffte inständig, dass die Polizei Carolyn gefunden hatte.
4
»Ms Nemid? Mr Kelby?« Ein korpulenter Schwarzer in einem braunen Anzug erwartete sie am Hangar, als sie aus dem Jet stiegen. »Ich bin Detective Michael Halley. Habe ich mit Ihnen telefoniert?«
Melis nickte. »Haben Sie Carolyn gefunden?«
Er schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Aber wir suchen intensiv nach ihr.«
Ihre Hoffnung schwand. »Die Insel ist klein. Praktisch jeder hier kennt Carolyn. Irgendjemand muss sie doch gesehen oder von ihr gehört haben. Was ist mit Maria Perez?«
Halley zögerte. »Ms Perez haben wir leider gefunden.«
Melis erstarrte. »Leider?«
»Ein paar Teenager haben sie am Strand entdeckt. Mit durchgeschnittener Kehle.«
Melis hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand mit der Faust in den Magen geschlagen. Sie spürte vage, wie Kelby ihr eine Hand auf den Arm legte. »Wie …«
»Wir glauben nicht, dass der Mord am Strand verübt wurde.
Wir haben Blutspuren im Vorzimmer von Dr. Mulans Praxis gefunden, ebenso in der Gasse hinter dem Gebäude, in dem sich die Praxisräume befinden.
Die anderen Mieter verlassen das Gebäude um achtzehn Uhr, es ist also anzunehmen, dass die Leiche nach Einbruch der Dunkelheit hinausgeschafft und am Strand deponiert wurde.«
Deponiert. Das hörte sich an, als redete er von einem Sack Müll und nicht von der lustigen, spitzzüngigen Maria, die Melis seit Jahren kannte. »Sind Sie sicher, dass es sich um Maria handelt? Kann es kein Irrtum sein?«
Halley schüttelte erneut den Kopf. »Ihre Mitbewohnerin hat sie im Leichenschauhaus zweifelsfrei identifiziert. Ich möchte Sie bitten, mit aufs Revier zu kommen und eine Aussage zu
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