Bodenlose Tiefe
Lautlos glitt er vor dem Gegenstand im Wasser hin und her.
»Er ist beunruhigt«, sagte Melis. »Er spürt, dass irgendwas …
nicht stimmt. Er war schon immer sensibler als Susie.« Sie betrachtete den Gegenstand, der direkt unter der Wasseroberfläche trieb. Am liebsten hätte sie sich abgewandt.
Ebenso wie Pete empfand sie eine böse Vorahnung.
»Wir müssen es ja nicht sofort aus dem Wasser holen«, sagte Kelby leise. »Ich kann später noch mal herkommen und es rausziehen.«
»Nein.« Vorsichtig manövrierte sie das Boot näher heran.
»Sie haben ja selbst gesagt, dass es unlogisch wäre, wenn er mich jetzt in die Luft sprengen würde oder irgendwas in der Art.
Ich werde so nah wie möglich ranfahren, dann können Sie das Ding vom Netz lösen.«
»Wie Sie wollen.« Er beugte sich über den Bootsrand und griff mit beiden Händen ins Wasser. »Es ist mit einem Seil befestigt.
Ich werde einen Moment brauchen …«
Es war ihr egal, selbst wenn er zehn Jahre brauchte. Von ihr aus konnte das verdammte Ding auf den Meeresboden sinken.
Kelby hatte die Lampen auf dem Boden des Boots abgestellt, aber in dem schwachen Licht, das auf das Wasser fiel, konnte sie ein seltsames Glitzern erkennen. Sie begann zu zittern.
Gold. Es sah aus wie Gold.
»Ich hab’s.« Er zog das Stück Holz ins Boot und betrachtete es. »Aber was zum Teufel ist das? Hübsche Schnitzerei. Sieht aus wie vergoldet, aber es steht keine Nachricht darauf.«
Fein vergoldetes Schnitzwerk.
»Sie irren sich. Es enthält eine Nachricht«, erwiderte sie tonlos.
Fein vergoldetes Schnitzwerk.
»Ich kann nicht sehen, was –« Er brach ab, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Sie wissen, was das ist.«
»Ja, ich weiß es.« Sie schluckte. Bloß nicht kotzen. »Werfen Sie es wieder ins Meer.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, verdammt. Werfen Sie es weg.«
»Ist ja gut.« Mit aller Kraft schleuderte Kelby das Stück Holz ins Meer.
Sie wendete das Boot und fuhr zurück zum Ufer.
»Melis, Sie müssen das Netz wieder hochfahren«, sagte Kelby ruhig.
Gott, das hatte sie ganz vergessen. Seit sie auf der Insel war, hatte sie noch nie vergessen, die Bucht zu sichern.
»Danke.« Sie wendete erneut und fuhr zurück zum Netz.
Kurz bevor sie den Steg erreichten, sagte Kelby: »Wollen Sie mir nicht sagen, welche Nachricht Archer Ihnen geschickt hat?«
»Archer?«
»Wilson sagt, der Typ heißt Hugh Archer. Wenn es sich um denselben Mann handelt, der dieses Boot in Griechenland gechartert hat.«
»Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
»Ich bin noch gar nicht dazu gekommen. Ich habe es erst heute Abend erfahren und Sie waren nicht in der Stimmung, mir zuzuhören.«
Sie hatte immer noch Angst. So viel Gewalt und Kaltblütigkeit. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie viel Bosheit in Archer stecken musste, dass er ihr dieses Stück Holz schickte.
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Werden Sie mir sagen, was das Stück Holz Ihnen bedeutet?«
»Nein.«
»Kurz und bündig. Könnten Sie mir dann vielleicht verraten, ob es sich um eine einmalige Botschaft handelt oder um Vorgeplänkel?«
»Es wird weitere Botschaften geben.« Sie waren am Steg angekommen und sie schaltete den Motor aus. »Und zwar schon bald. Er wird wieder versuchen, mich zu verletzen.«
»Warum?«
»Manche Männer sind einfach so.« Redete sie von der Vergangenheit oder von der Gegenwart? Beides schien ineinander überzugehen. »Wahrscheinlich hat er es genossen, Carolyn zu quälen. Macht. Solche Männer lieben Macht …« Sie ging auf das Haus zu.
»Melis, ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mich im Dunkeln lassen.«
»Und ich kann im Moment nicht mit Ihnen reden. Lassen Sie mich allein.« Sie ging ins Haus. In ihrem Zimmer schaltete sie alle Lampen an, wickelte sich auf ihrem Sessel in eine Decke ein und starrte ihr Telefon an, das auf ihrem Nachttisch lag. Sie musste aufhören zu zittern. Er würde sie sehr bald anrufen und sie musste gewappnet sein.
Gott, wenn sie doch nur aufhören könnte zu zittern.
Er rief nicht an.
Als der erste Streifen Dämmerung sich am Horizont zeigte, gab sie es schließlich auf und ging in die Dusche. Das heiße Wasser tat ihrem ausgekühlten Körper gut, reichte jedoch nicht, um ihre Muskeln zu entspannen. Dafür musste das Warten vorüber sein. Sie hätte sich denken können, dass er sie auf diese Weise quälen würde.
Warten hatte sie schon immer als eine Form der Folter empfunden. Wahrscheinlich wusste er das. Wahrscheinlich
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