Bodenlose Tiefe
begegnet, der die Erinnerung an diese Lebensphase in ihm wachgerufen hatte.
Er musste diese Erinnerung unterdrücken. Sie umdrehen. Sie in etwas anderes umwandeln.
Er musterte Melis Nemid mit kühlem, sachlichem Blick.
Ja, sie wirkte zerbrechlich und hilflos. Andererseits hatte diese Zartheit etwas seltsam Sinnliches und Erregendes.
Es war, als hielte man eine hauchdünne Porzellantasse in dem Bewusstsein, dass man sie jederzeit mit einem kräftigen Druck der Hand zerbrechen konnte. Ein großer, perfekt geformter Mund, der die Sinnlichkeit noch unterstrich. Eine verdammt schöne Frau.
Und das sollte Lontanas Pflegetochter sein? Lontana war Mitte sechzig und diese Frau war vielleicht Mitte zwanzig. Durchaus möglich. Denkbar war aber auch, dass diese Bezeichnung gewählt worden war, um unangenehme Fragen nach einem Verhältnis zu vermeiden.
Aber es spielte keine Rolle, was sie ihm bedeutet hatte.
Wichtig war nur, dass diese Beziehung lange genug gedauert hatte und vertraut genug gewesen war, dass die Frau Kelby sagen konnte, was er wissen musste. Falls sie Bescheid wusste, würde er dafür sorgen, dass sie ihm ihr Wissen preisgab.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wartete darauf, dass sie aufwachte.
Ihr Kopf tat höllisch weh.
Beruhigungsmittel? Nein, die hatten sie abgesetzt, als sie aufgehört hatte sich zu wehren. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Kein fein vergoldetes Schnitzwerk, stellte sie erleichtert fest. Kühle blaue Wände, so kühl wie das Meer. Frische weiße Laken, die sie umhüllten. Ein Krankenhaus?
»Sie müssen durstig sein. Möchten Sie einen Schluck Wasser?«
Eine Männerstimme. Vielleicht ein Arzt oder ein Krankenpfleger …. Ihr Blick schweifte zu dem Mann, der neben ihrem Bett saß.
»Ganz ruhig. Ich biete Ihnen kein Gift an.« Er lächelte.
»Nur ein Glas Wasser.«
Er war kein Arzt. Er trug Jeans und ein Leinenhemd mit bis zu den Ellbogen aufgekrempelten Ärmeln und er kam ihr irgendwie
… bekannt vor. »Wo bin ich?«
»Im St.-Katharina-Krankenhaus.« Er hielt ihr das Glas an die Lippen, damit sie trinken konnte. Argwöhnisch musterte sie ihn über das Glas hinweg. Er hatte dunkle Haare, dunkle Augen, war etwa Mitte dreißig und sein Selbstbewusstsein strahlte dieselbe Lässigkeit aus wie seine Kleidung. Wenn sie diesem Mann schon einmal begegnet wäre, wüsste sie das mit Sicherheit.
»Was ist passiert?«
»Sie erinnern sich nicht?«
Das explodierende Schiff, Holz- und Metallteile, die durch die Luft flogen.
»Phil!« Mit einem Ruck setzte sie sich im Bett auf. Phil war in diesem Inferno gewesen. Phil war – Sie versuchte aufzustehen.
»Er war da. Ich muss – Er ist unter Deck gegangen und er war –
«
»Legen Sie sich hin.« Er drückte sie zurück auf ihr Kissen.
»Sie können nichts für ihn tun. Das Schiff wurde vor über vierundzwanzig Stunden vollkommen zerstört. Die Küstenwache hat die Suche noch nicht aufgegeben. Wenn er noch lebt, wird man ihn finden.«
Vierundzwanzig Stunden. Sie schaute ihn wie benommen an.
»Sie haben ihn nicht gefunden?«
Kelby schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
»Sie dürfen nicht aufgeben. Lassen Sie nicht zu, dass sie die Suche aufgeben.«
»Bestimmt nicht. Werden Sie jetzt wieder schlafen? Die Schwestern werfen mich raus, wenn sie glauben, ich hätte Sie in Aufregung versetzt. Ich dachte einfach, Sie sollten Bescheid wissen. Ich habe das Gefühl, dass Sie so sind wie ich. Sie wollen die Wahrheit wissen, auch wenn sie wehtut.«
»Phil …« Sie schloss die Augen. »Es tut weh. Ich wünschte, ich könnte weinen.«
»Dann tun Sie’s.«
»Ich kann nicht. Ich habe noch nie – Gehen Sie weg. Ich möchte nicht, dass mich jemand so sieht.«
»Aber ich habe Sie bereits gesehen. Ich würde also sagen, ich bleibe am besten hier und vergewissere mich, dass es Ihnen bald wieder gut geht.«
Sie öffnete die Augen und musterte ihn. Hart … verdammt hart. »Es interessiert Sie doch überhaupt nicht, ob es mir gut geht. Wer zum Teufel sind Sie?«
»Jed Kelby.«
Jetzt wusste sie, wo sie sein Gesicht schon einmal gesehen hatte. In Zeitungen, Zeitschriften. Im Fernsehen.
»Ich hätte es wissen müssen. Der Goldjunge.«
»Diesen Spitznamen und alles, was damit zusammenhing, habe ich immer verabscheut. Er ist einer der Gründe, warum ich mich mit den Medien so heftig angelegt habe.« Er lächelte.
»Aber ich bin drüber weggekommen. Schließlich bin ich kein Junge mehr. Ich bin ein Mann. Und ich bin, was ich bin. Sie
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