Body Farm
ich zum Vergleich bereitgelegt hatte, drehte ihn um, rollte ihn langsam zwischen den Fingern und betrachtete ihn aufmerksam. Und plötzlich hatte ich die Antwort. Es war verblüffend einfach und paßte genau. Ich war wie elektrisiert. Der Gegenstand, der unter Emily Steiners Leiche zu oxydieren begonnen hatte, war tatsächlich ein Vierteldollar gewesen. Aber er hatte mit der Vorderseite nach oben gelegen. Was zuerst ausgesehen hatte wie der Umriß eines Vogels, war die Vertiefung von George Washingtons linker Augenhöhle, und der vermeintliche Kopf und Schnabel waren in Wirklichkeit das stolze Haupt unseres ersten Präsidenten und die Haarrolle seiner gepuderten Perücke. Das war aber nur der Fall, wenn ich den Vierteldollar so drehte, daß Washington die Tischplatte ansah und seine aristokratische Nase auf mein Knie zeigte.
Wo mochte Emilys Leiche gelegen haben? Eigentlich konnte überall unbemerkt ein Vierteldollar auf dem Boden liegen. Doch da waren noch die Spuren von Farbe und Holundermark. Wo gab es das zusammen, Holundermark und einen Vierteldollar? Natürlich, in einem Keller. In einem Keller, wo mit Holundermark, Farbe und anderen Hölzern, etwa Nußbaum und Mahagoni, gearbeitet worden war. Vielleicht wurde jener Raum als Hobbykeller benutzt. Für welches Hobby? Schmuck reinigen? Nein, das ergab keinen Sinn. Uhren reparieren? Auch das paßte nicht. Dann fielen mir die vielen Uhren in Denesa Steiners Haus ein, und mein Puls ging schneller. Ob ihr verstorbener Mann nebenbei Uhren repariert hatte? Vielleicht hatte er dazu den Keller genutzt, und vielleicht hatte er dabei Holundermark zum Fixieren kleiner Laufwerke benutzt.
Wesley atmete mit den langsamen, tiefen Zügen des Schlafenden. Plötzlich rieb er sich die Wange, als wäre eine Fliege darauf gelandet, und zog sich die Decke über die Ohren. Ich nahm das Telefonbuch und suchte nach dem Sohn des Mannes, der in den Shuford Mills gearbeitet hatte. Es gab zwei Robert Kelseys, einen Robert Kelsey jr. und einen Robert Kelsey III. Ich nahm den Hörer ab und wählte.
»Hallo?« fragte eine weibliche Stimme.
»Spricht dort Mrs. Kelsey?« fragte ich.
»Kommt darauf an, ob Sie Myrtle sprechen wollen oder mich.«
»Ich suche Rob Kelsey jr.«
»Ach«, lachte sie. Sicher war sie eine nette, freundliche Frau. »Dann bin ich schon mal nicht die, die Sie suchen. Aber Rob ist nicht da. Er ist zur Kirche gegangen. Wissen Sie, sonntags hilft er manchmal beim Abendmahl, da muß er früh dort sein.«
Mich wunderte, daß sie mir so bereitwillig diese Information gab, ohne zu fragen, wer ich sei. Wieder einmal berührte es mich, daß es noch Plätze auf der Welt gab, wo die Menschen einander vertrauten.
»Und welche Kirche ist das?« fragte ich Mrs. Kelsey. »Die Dritte Presbyterianische.«
»Der Gottesdienst beginnt um elf?«
»Wie immer. Reverend Crow ist übrigens wirklich gut, falls Sie noch nicht von ihm gehört haben. Soll ich Rob etwas ausrichten?«
»Ich versuche es später noch einmal.« Ich bedankte mich und hängte ein. Als ich mich umdrehte, saß Wesley aufrecht im Bett und sah mich verschlafen an. Sein Blick wanderte durch das Zimmer, blieb an dem Abzug des Fotos, den Münzen und dem Vergrößerungsglas vor mir hängen. Er reckte sich und lachte.
»Was ist?« fragte ich etwas indigniert. Er schüttelte nur den Kopf.
»Es ist Viertel nach zehn«, sagte ich. »Wenn du mit mir in die Kirche willst, mußt du dich wohl beeilen.«
»In die Kirche?« Er runzelte die Stirn.
»Ja. Das ist ein Ort, an dem Menschen zu Gott beten.«
»In dieser Gegend gibt es eine katholische Kirche?«
»Keine Ahnung.«
Jetzt sah er mich völlig verständnislos an.
»Heute morgen besuche ich einen presbyterianischen Gottesdienst«, sagte ich. »Und falls du nichts anderes zu tun hast, ich brauche jemanden, der mich hinbringt. Denn vor einer Stunde war mein Leihwagen noch nicht da.«
»Wenn ich dich fahre, wie kommst du dann wieder zurück?«
»Darum mache ich mir keine Sorgen.« In dieser Stadt war man schließlich Fremden gegenüber schon am Telefon so entgegenkommend. Ich wollte keine festen Pläne machen, sondern die Dinge einfach auf mich zukommen lassen.
»Na ja, ich habe ja meinen Piepser«, sagte Wesley und stellte die Füße auf den Boden. Ich zog meinen zweiten Akku aus der Steckdose neben dem Fernseher.
»Sehr gut.« Ich steckte mein Handy in die Handtasche.
20
Wesley setzte mich etwas zu früh vor den Eingangsstufen der Natursteinkirche ab, doch die ersten
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