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Body Farm

Body Farm

Titel: Body Farm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Kirchgänger trafen bereits ein. Ich sah zu, wie sie aus ihren Wagen stiegen, in die Sonne blinzelten, ihre Kinder zählten. Überall in der schmalen Straße fielen Wagentüren ins Schloß. Ich spürte die neugierigen Blicke im Nacken, als ich dem gepflasterten Weg nach links zum Friedhof folgte. Es war ein sehr kalter Morgen. Trotz des blendenden Sonnenscheins legte sich die Kälte wie ein klammes Tuch auf meine Haut. Ich drückte das rostige, schmiedeeiserne Tor auf, das keinem anderen Zweck mehr zu dienen schien, als respektheischend und dekorativ zu sein. Es sperrte niemanden aus, und einsperren mußte es wohl erst recht niemanden.
    Neue Grabsteine aus poliertem Granit glänzten kalt, während sich die sehr alten in alle Himmelsrichtungen neigten und wie blutleere Zungen aussahen, die aus den Mündern der Gräber sprachen. Auch hier sprachen die Toten zu einem, denn sie sprechen immer, wenn wir uns ihrer erinnern. Der Frost knirschte unter meinen Sohlen, als ich zu der Ecke ging, wo Emily Steiner lag. Das Grab war eine noch offene Wunde aus rotem Lehm, grausam verstümmelt durch das erneute Öffnen und Schließen. Mir stiegen Tränen in die Augen, als ich noch einmal das Grabmal mit dem holden Engel und dem traurigen Spruch ansah.
    Niemanden sonst gibt es auf der Welt mein war die einzige.
    Doch diese Zeile von Emily Dickinson hatte jetzt eine andere Bedeutung für mich bekommen. Ich las sie mit anderen Augen und einer völlig neuen Einschätzung der Frau, die sie ausgesucht hatte. Es war das »mein«, das mir entgegensprang. Mein. Emily hatte kein eigenes Leben geführt. Sie war gewissermaßen die Fortführung einer narzißtischen, geisteskranken Frau mit unstillbarem Hunger nach Bestätigung ihres Ichs gewesen.
    Für ihre Mutter war Emily, ebenso wie wir alle, bloß eine Schachfigur gewesen. Wir waren für Denesa Puppen, die man an- und auszieht, an sich drückt oder zerreißt. Ich dachte an die Einrichtung ihres Hauses, an den Nippes und Kleinkram und an die Kleine-Mädchen-Muster der Dekorationen. Denesa war schon als kleines Mädchen ein Kind gewesen, das beachtet werden wollte, und als sie größer wurde, hatte sie gelernt, wie sie das erreichen konnte. Sie hatte jedes Leben zerstört, mit dem sie je in Berührung gekommen war, und sich jedesmal am warmen Busen einer mitleidvollen Welt ausgeweint. Arme, arme Denesa, sagte jeder, wenn er von ihr sprach, dieser mörderischen Kreatur von Mutter mit Blut an den Händen. Eis schob sich in schlanken Säulen aus dem roten Lehm auf Emilys Grab. Ich kannte den genauen physikalischen Prozeß nicht, aber es war wohl die Feuchtigkeit, die sich beim Gefrieren in dem unporösen Lehm so ausdehnte, wie Eis das eben tut, und dabei nur einen Weg nach oben fand. Fast sah es so aus, als sei Emilys Geist in der Kälte eingefangen worden, als er aus der Erde aufsteigen wollte, und funkele in der Sonne wie reines Kristall und Wasser. In einer Welle von Trauer spürte ich, daß ich dieses kleine Mädchen, das ich nur im Tod kannte, liebte. Sie hätte auch Lucy sein können, oder Lucy sie. Beiden fehlte eine gute Mutter. Die eine war schon heimgegangen, die andere noch verschont geblieben. Ich kniete nieder und sprach ein Gebet. Dann holte ich tief Luft und ging zur Kirche. Die Orgel intonierte »Rock of Ages«, als ich eintrat. Während die Gemeinde den ersten Choral sang, nahm ich so unauffällig wie möglich Platz in einer der hinteren Bänke. Dennoch drehte sich mancher Kopf nach mir um; in solch einer Kirche fielen Fremde auf, wahrscheinlich weil sie so selten waren. Der Gottesdienst nahm seinen Fortgang. Als ich mich nach einem Gebet bekreuzigte, starrte mich ein kleiner Junge in meiner Bank an, während seine Schwester im Gottesdienstprogramm herumkritzelte. Reverend Crow machte seinem Namen alle Ehre. Mit der scharf geschnittenen Nase und der schwarzen Robe sah er wirklich aus wie eine Krähe. Wenn er während der Predigt mit den Armen wedelte, erinnerten diese an Flügel, und bei dramatischeren Passagen schien er fast abzuheben. Die Glasfenster mit den Wundern Jesu als Motiven leuchteten in der Sonne, und der glimmerdurchzogene Naturstein schimmerte wie Gold.
    Man sang »Just As I Am«, und das Abendmahl begann. Ich sah mir den Vorgang genau an, um dem Beispiel der anderen folgen zu können. Anstatt daß sich die Gemeinde vorne aufstellte, um Brot und Wein zu empfangen, gingen Gottesdiensthelfer von Reihe zu Reihe und reichten winzige Gefäße mit Traubensaft und kleine

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