Body Farm
herausgehoben und auf den Rasen abgesenkt worden war, kam Bewegung in die Szene. Von allen Seiten strömten Menschen herbei - Kamerateams, Reporter und Fotografen. Sie drängten sich um die offene Wunde im Boden und um die Kammer, an der glänzender, blutroter Lehm klebte.
»Warum exhumieren Sie Emily Steiner?« wollte einer wissen.
»Stimmt es, daß die Polizei einen Verdächtigen hat?« rief ein anderer.
»Dr. Scarpetta?«
»Warum wurde das FBI hinzugezogen?«
»Dr. Scarpetta?« Eine Frau schob mir ein Mikrofon dicht unter die Nase. »Es sieht so aus, als müßten Sie dem Leichenbeschauer von Buncombe County Nachhilfeunterricht geben.«
»Warum entweihen Sie das Grab des kleinen Mädchens?«
Plötzlich brüllte Marino über das Stimmengewirr hinweg, so laut, als wäre er verwundet: »Haut ab von hier, verdammt noch mal! Ihr behindert eine Ermittlung! Hört ihr mich, ihr gottverdammten Arschlöcher?« Er stampfte mit den Füßen auf. »Verschwinden Sie augenblicklich!« Die Reporter blieben wie angewurzelt stehen und starrten ihn erschrocken an. Mit hochrotem Gesicht und hektischen Flecken am Hals tobte er weiter.
»Die einzigen, die hier etwas entweihen, seid ihr Ärsche! Und wenn ihr hier nicht auf der Stelle verschwindet, zerschlage ich euch die Kameras und alles, was mir in die Hände kommt, einschließlich eurer gottverdammten dreckigen Schädel!«
»Marino«, sagte ich und legte ihm die Hand auf dem Arm. Er war angespannt und hart wie Eisen.
»Meine ganze Polizistenlaufbahn lang habe ich mit euch Arschlöchern zu tun, und ich habe es satt! Hört ihr? Ich habe es verdammt noch mal satt, ihr arschfickendes Hurenpack von BLUTSAUGENDEN PARASITEN!«
»Marino!« Ich zog ihn am Handgelenk weg, denn langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. Noch nie hatte ich ihn in einer derartigen Rage gesehen. Mein Gott, dachte ich, laß es nicht zu, daß er auch noch auf jemanden schießt. Ich baute mich vor ihm auf, damit er mich ansehen mußte, doch sein wilder Blick kam nicht zur Ruhe.
»Marino, hören Sie! Sie gehen ja schon. Bitte beruhigen Sie sich. Marino, ganz sachte. Sehen Sie, auch der letzte ist jetzt auf dem Rückzug. Sie haben es wirklich geschafft. Sie rennen fast.«
Die Presseleute waren so plötzlich weg, wie sie gekommen waren, ähnlich einer Bande von Marodeuren, die aus dem Nebel aufgetaucht und wieder in ihm verschwunden war. Marino starrte auf die leere, sanft abfallende Rasenfläche mit ihren Plastikblumenbüschen und den perfekten Reihen von Grabsteinen. Mit Hammer und Meißel erbrachen die Totengräber das Teersiegel der Grabkammer und legten den Deckel gerade auf dem Boden ab, als Marino in die Büsche rannte. Wir taten so, als überhörten wir das unterdrückte Würgen und Husten hinter den Lorbeerbüschen, als er sich übergab.
»Haben Sie noch eine Flasche von der Einbalsamierungsflüssigkeit, die Sie benutzt haben?« fragte ich Lucias Ray, der den Ansturm der Medientruppe und Marinos Ausbruch wohl eher komisch als lästig gefunden hatte.
»Wahrscheinlich schon. Eine halbe Flasche müßte noch da sein«, sagte er.
»Ich muß sie toxikologisch untersuchen«, erklärte ich. »Es ist nur Formaldehyd und Methanol mit einer Spur Lanolin - eine absolut gebräuchliche Mischung. Allerdings habe ich wegen Emilys geringer Körpergröße eine nicht so hohe Konzentration verwendet. Ihr Kollege sieht aber gar nicht gut aus«, fügte er hinzu, als Marino wieder aus den Büschen hervorkam. »Wissen Sie, zur Zeit grassiert hier die Grippe.«
»Ich glaube nicht, daß er die Grippe hat«, sagte ich. »Wie haben die Reporter erfahren, daß wir hier sind?«
»Aha, jetzt wollen Sie mich dafür verantwortlich machen. Aber Sie wissen ja, wie die Leute sind.« Er spuckte aus. »Irgendeiner muß immer quasseln.«
Emilys stählerner Sarg war so weiß wie die Blüten der wilden Karotten, die um ihr Grab wuchsen. Um ihn aus der Kammer zu heben und sanft im Gras abzustellen, brauchten die Totengräber die Winde nicht, denn er war so klein wie der Körper, der in ihm lag.
Lucias Ray zog ein Funkgerät aus der Manteltasche und sprach hinein.
»Ihr könnt jetzt kommen«, sagte er.
»Okay«, antwortete eine Stimme. »Keine Reporter mehr, will ich sehr hoffen.«
» Sie sind alle weg.«
Ein glänzendschwarzer Leichenwagen glitt durch das Friedhofstor und fuhr, teils im Gras, teils durch das Gehölz, auf das Grab zu, wobei er wie durch ein Wunder weder ein Grab noch einen Baum streifte. Ein fetter Mann mit
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