Böse Freundin (German Edition)
den Vorschlag, sich einen Nachfolger zuzulegen.
Beim Wählen fiel Celia auf, dass sie die Büronummer ihrer Mutter nicht als Zahlenreihe im Kopf hatte, sondern mit den Fingern auf dem Tastenfeld eine feste Abfolge von Stepptanzschritten absolvierte. Ihre Mutter nahm beim ersten Klingeln ab.
«Noreen Durst am Apparat, guten Morgen.»
«Hi, Mom.»
Anders als die Nummer war Celia die knappe, geschäftsmäßige Stimme nicht mehr präsent gewesen, mit der ihre Mutter Tag für Tag ihr Heimkommen aus der Schule überwacht und die Stunden bis zu ihrer eigenen Rückkehr strukturiert hatte. Später fällte diese Stimme die Entscheidung darüber, ob eine Krankheit vorgetäuscht war oder echt, und Celias Wohl und Wehe hing von einem Urteilsspruch ab, der sich per Telefon weit schlechter beeinflussen ließ.
«Celie! Wie schön, dass du anrufst. Bist du gerade aufgestanden?»
«Ja.» Ein Smiley strahlte ihr vom unteren Rand des Zettels entgegen. «Danke für den Kaffee.»
«Hast du schon was gegessen?», fragte Noreen. «Es ist alles da, wo es immer ist, außer dem Müsli, das steht nicht mehr in der Speisekammer. Dein Vater hat es in den Schrank –»
«– über der Kaffeemaschine geräumt, ich weiß. Das ist schon seit Jahren so.»
«Ach, tatsächlich? Na, menschheitsgeschichtlich betrachtet ist es noch nicht allzu lange da. Meine Güte, Celie, wann hast du mich zum letzten Mal hier angerufen?»
Celia hörte durch den Hörer einen Gong, und ihr Puls beschleunigte sich, als wäre sie immer noch ein Schulkind. Sie sah zur Wanduhr: Soeben fing die zweite Stunde an. «Lustig», sagte sie, als der Gong verstummt war. «Das habe ich auch gerade überlegt.»
«Vielleicht liegt es an der Verbindung», sagte Noreen nachdenklich, «aber deine Stimme klingt haargenau so wie früher. Wie deine Highschool-Telefonstimme.»
«Wirklich?»
«Heute Morgen habe ich Beverly erzählt, dass du kommst, und da haben wir uns das Jahrbuch von deinem letzten Jahr hier angeguckt. Ich hatte ganz vergessen, wie wenig Platz wir Berater früher gehabt haben.»
«Es freut mich, dass ich endlich mal dein neues Büro zu sehen kriege.»
«So neu ist es ja gar nicht mehr. Ich bin übrigens mit Lynne mitgefahren, damit du ein Auto zur Verfügung hast. Sie meint, es ist kein Problem für sie, mich die ganze Woche mitzunehmen.»
Das hatte Celia nicht bedacht: Der Verzicht auf einen Mietwagen hieß, in puncto Transport zum ersten Mal seit ihrem sechzehnten Geburtstag wieder auf ihre Eltern angewiesen zu sein.
«Wann kommst du?», fragte Noreen.
Celia stellte ihre Uhr um. Im Nu war eine Morgenstunde weg. «Viertel nach elf, passt das?»
«Ich habe den Damen im Sekretariat Bescheid gesagt, dass du kommst, aber du musst dich trotzdem ausweisen. Es ist alles viel bürokratischer geworden hier.»
Celia hörte, wie am anderen Ende der Leitung eine Tür ins Schloss gezogen wurde. Die Bürogeräusche im Hintergrund verebbten. Bis zur Pensionierung der Leiterin hatte Noreen im Großraumbüro der Beratungsstelle gearbeitet. Als dienstältester Angestellter stand ihr die Beförderung, um die sie sich nicht gerade gerissen hatte, automatisch zu. Die meisten Berater blieben nur so lange auf dem Posten, bis ihnen klar wurde, dass sie anderswo Karriere machen konnten – ein Desillusionierungsprozess, der zwischen einem und vier Jahren dauern konnte.
«Celie?», fragte sie, als wolle sie sich vergewissern, ob ihre Tochter noch dran war. «Hast du gut geschlafen? Gestern Abend hast du so furchtbar … müde ausgesehen. Ich hatte das Gefühl, dein Vater und ich hätten dich vollkommen überstrapaziert.»
Celia war froh, dass niemand ihre Grimasse sah, die sie ihrer Meinung nach eigentlich zusammen mit himbeerrotem Lipgloss ausgemustert hatte.
«Ich hab prima geschlafen, Mom. Also dann bis gleich, ja?»
«Kann sein, dass noch ein hartgekochtes Ei da ist», sagte Noreen. «Guck mal in die Schublade, in der immer der Aufschnitt ist, auf der linken Seite.» Celia wollte kein Ei. Nachdem sie aufgelegt hatte, zog sie die Schublade auf. Da war es, das Ei, einsam und allein.
Auch ohne die vier Jahre, die Celia an der Arbeitsstelle ihrer Mutter verbracht hatte, wäre die Highschool von Jensenville leicht zu finden gewesen. Sie thronte auf einem Hügel oberhalb der häufig überspülten Ufer des Chenango wie eine Riesenschachtel, die darauf wartete, mit unerwünschten Kätzchen gefüllt und in die Fluten geworfen zu werden. Bei ihrem Bau, in den energiebewussten
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