Böse Freundin (German Edition)
anhörte oder es tatsächlich dieselbe Stimme war, die früher Celias Zuspätkommen konstatiert hatte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. In der Highschool hatte sie niemandem, der über dreißig war, besondere Beachtung geschenkt. Celia nickte, und die Blicke richteten sich wieder auf die Schreibtische – was von einmütiger Enttäuschung zeugte. Sang- und klanglos wurde die Tochter von Noreen aus der Beratungsstelle mit einem Namensschild versehen und in den Flur entlassen.
Celia war mitten in der vierten Stunde gekommen. Die einzigen sichtbar vorhandenen Schüler bewarben sich auf Postern im Flur um Ämter in der Schülervertretung. Für den Bruchteil einer Sekunde war Celia wieder fünfzehn und zu spät dran zum Englischunterricht. Im nächsten Moment war sie wieder zweiunddreißig und studierte selbstgemachte Flyer, die an einer Wand hingen. Die derzeitigen Anwärter auf das Amt des Schülersprechers oder Kassenwarts spuckten ebenso große, Erfahrung vortäuschende Töne wie in Celias zweitem Jahr an der Highschool, aber sie waren ethnisch breiter gefächert. Der Umzug nach Chicago hatte Celia die späte und peinliche Erkenntnis beschert, in welch einförmiger Kultur sie aufgewachsen war. Quasi in einen Ziegelklotz hineingeboren, hatte sie Fenster nie vermisst.
Die Beratungsstelle der Schule befand sich am anderen Ende des Obergeschosses. In ihrem ersten Jahr an der Highschool hatte Celia immer die hintere Treppe benutzt, um auf dem Weg zum Unterricht nicht daran vorbeizukommen. Selbst jetzt war dieser Ort noch der Nordpol auf ihrem inneren Kompass. Sie spürte ihn links von sich, als sie im Erdgeschoss durch den Flur ging, und dann mittig rechts, als sie nach oben stieg. Jensenville war so klein, dass einige Lehrer selbst Kinder an der Schule hatten. Damals fanden ihre Mitschüler wohl, Celia sei mit Noreen besser dran, aber in der Mittel- und Oberstufe hätte sie einen Lehrer als Elternteil weniger peinlich gefunden. «Beraterin», es lag an dem Wort: Sie war mit einer Mutter geschlagen, die von Berufs wegen alles besser wusste.
Die Beratungsstelle lag direkt über dem Musiksaal und war mit einem flauschigen Teppichboden ausgestattet, der mühelos die schrillen Gräueltaten des Flötenensembles schluckte, doch nicht einmal der dickste Wollflor hätte die Blaskapelle mundtot machen können. Wenn diese wegen Regen oder Kälte nicht draußen üben konnte, drangen dumpfe Töne und metallisches Kreischen nach oben. Als Erstes fiel Celia auf, dass der braune Teppich durch einen blauen ersetzt worden war. Und es gab weniger Arbeitsplätze im Großraumbüro – die schwindenden Schülerzahlen in Jensenville schlugen sich auch auf das Beratungspersonal nieder. Wo einst Trennwände gestanden hatten, wies der Teppich dunkle Linien auf – ein Schattenraster mit weniger Kaffeeflecken und eingetretenen Kaugummis.
Zwei Mädchen, die direkt bei der Tür saßen, betrachteten Celia besorgt, stuften sie auf den zweiten Blick jedoch als unwichtig ein, denn ihre Mienen entspannten sich wieder. Eine Wand des Wartebereichs hing voller Poster, die vor Drogen, Selbstmord und Sex warnten, die andere zierten Hochglanzfotos verschiedener Colleges. Celia fragte sich, ob es etwas zu bedeuten hatte, dass die Mädchen an der Wand der Laster platziert waren.
«Wie kann ich Ihnen helfen?»
Die Sekretärin der Beratungsstelle klang nicht so, als hätte sie besondere Fähigkeiten in puncto Klatsch und Tratsch oder Unterhaltungswert vorzuweisen, was für Celias Mutter vermutlich ein ausschlaggebendes Argument bei der Vergabe des Postens gewesen war.
«Halt, Sie müssen Celia sein!», korrigierte sich die Sekretärin. «Sie sehen haargenau so aus wie auf dem Bild in Ihrem Jahrbuch, sind nur ein Stück erwachsener geworden. Ich bin Beverley. Sie haben die gleichen Augen wie Ihre Mutter.»
Bei dem Wort «Mutter» wandten die Mädchen ihr die Köpfe zu.
«Diese Glückliche ist Mrs. Dursts Tochter», erläuterte Beverley. Celia spürte, wie sie rot wurde, und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
«In echt?», fragte eins der Mädchen. Auf ihrem Baby-Doll-Hemdchen stand, soweit Celia es auf den ersten Blick entziffern konnte, in goldenen Buchstaben SCHARF. Celia blinzelte. Auf dem T-Shirt stand SCHALOM. Das Mädchen hätte ihrem Gefühl nach ebenso gut in der neunten wie in der zwölften Klasse sein können. Nach all den Jahren konnte Celia das nicht mehr genau einschätzen.
«Und, kriegen Sie dann dauernd Ratschläge von
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