Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
eine ganz genaue Erklärung verlange.«
»Gnädige Frau, das ist ein Geheimnis, das nur im Sarg beerdigt werden kann!« antwortete der Hauptmann.
»Also, warum?« fragte Warwara Petrowna, irgendwie nicht mehr ganz so hart.
»Gnädige Frau, gnädige Frau!«
Er verstummte finster, den Blick zu Boden gesenkt und die rechte Hand gegen das Herz gepreßt. Warwara Petrowna wartete, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
»Gnädige Frau!« brüllte er plötzlich. »Gestatten Sie mir, Ihnen eine Frage zu stellen, eine einzige, aber offen, gerade heraus, echt russisch, von Herz zu Herz?«
»Ich bitte darum.«
»Haben Sie, gnädige Frau, in Ihrem Leben je gelitten?«
»Sie wollen einfach sagen, daß Sie selbst unter jemandem gelitten haben oder immer noch leiden?«
»Gnädige Frau, gnädige Frau!« Mit diesen Worten sprang er plötzlich wieder auf, vermutlich ohne es selbst zu merken, und schlug sich dabei an die Brust. »Hier, in diesem Herzen, hat sich viel angesammelt, so viel, daß Gott der Herr selbst staunen wird, wenn beim Jüngsten Gericht alles offenbar wird!«
»Hm, nicht gerade bescheiden.«
»Gnädige Frau, ich spreche vielleicht eine aufreizende Sprache.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich kann selbst beurteilen, wann man Ihnen Einhalt gebieten muß.«
»Darf ich eine weitere Frage stellen, gnädige Frau?«
»Stellen Sie eine weitere Frage.«
»Kann man einzig und allein an seiner großen Seele sterben?«
»Das weiß ich nicht, ich habe mir diese Frage nie gestellt.«
»Das wissen Sie nicht! Diese Frage haben Sie sich nie gestellt!« rief er mit pathetischer Ironie, »wenn dem so ist, dann –
›Schweige, untröstliches Herz!‹«
Und dabei schlug er sich emphatisch an die Brust.
Inzwischen hatte er seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufgenommen. Ein Kennzeichen solcher Menschen ist die vollkommene Machtlosigkeit gegenüber den eigenen Wünschen; sogar im Gegenteil, der unbezähmbare Drang, sie sogleich zu äußern, so unsauber sie auch sein mochten, kaum, daß sie sich regen. Gerät ein solcher Herr in eine Umgebung, die nicht die seine ist, gibt er sich am Anfang gewöhnlich schüchtern, reicht man ihm aber den kleinen Finger, schlägt er sofort einen dreisten Ton an. Der Hauptmann war bereits in Hitze geraten, schritt auf und ab, fuchtelte mit den Armen, ging auf keine Frage ein, redete von sich selber, schnell, so schnell, daß er sich ab und zu verhaspelte und, ohne den Satz zu beenden, den nächsten begann. Freilich, er war wohl kaum ganz nüchtern; außerdem saß Lisaweta Nikolajewna dabei, die er zwar kein einziges Mal angesehen hatte, deren Gegenwart ihn aber, wie es schien, schwindeln machte. Letzteres ist natürlich nur eine Vermutung. Es muß also einen bestimmten Grund gegeben haben, weshalb Warwara Petrowna sich entschlossen hatte, ihren Abscheu zu überwinden und einem solchen Mann zuzuhören. Praskowja Iwanowna schlotterte einfach vor Angst, schien allerdings kaum zu verstehen, worum es sich handelte. Stepan Trofimowitsch zitterte auch, wenn auch aus dem entgegengesetzten Grunde, nämlich seiner Neigung, grundsätzlich zuviel zu verstehen. Mawrikij Nikolajewitsch stand in der Pose eines Beschützers von jedem und allen da. Lisa, totenblaß, starrte mit weitaufgerissenen Augen wie gebannt den entfesselten Hauptmann an. Schatow saß in unveränderter Haltung da; das Seltsamste war, daß Marja Timofejewna nicht nur aufgehört hatte zu lachen, sondern auf einmal furchtbar traurig wurde. Sie stützte sich mit dem rechten Arm auf den Tisch und beobachtete mit traurigem Blick unverwandt ihren deklamierenden Bruder. Nur Darja Pawlowna, schien mir, war ruhig geblieben.
»Das sind alles alberne Allegorien«, sagte Warwara Petrowna endlich verärgert. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet: ›Warum‹? Ich bestehe auf einer Antwort.«
»Ich habe nicht beantwortet: ›Warum‹? Sie bestehen auf einer Antwort? ›Warum?‹« wiederholte der Kapitän zwinkernd. »Dieses kurze Wörtchen ›Warum?‹ breitete sich gleich am ersten Schöpfungstag im ganzen Weltall aus, gnädige Frau, und die ganze Natur ruft jeden Augenblick ihrem Schöpfer zu: ›Warum?‹ und erhält seit nunmehr siebentausend Jahren keine Antwort. Muß denn allein Hauptmann Lebjadkin Rede und Antwort stehen? Wäre das gerecht, gnädige Frau?«
»Das ist alles Unsinn und keine Antwort!« Warwara Petrowna wurde zornig und verlor langsam die Geduld. »Nichts als Allegorien; und außerdem belieben Sie, sich allzu
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