Boese Maedchen sterben nicht
dann zurück und weiter in die andere, durchkämmte ich die Menge von Seelen um mich herum. Und plötzlich, so wie den leisen Klang eines vibrierenden Glases, wenn man mit dem Finger über den Rand fuhr, spürte ich sie.
Tammy, dachte ich voller Freude. Sie musste es sein.
Wie es aussah, war sie allein und nicht mal besonders weit weg. Ich konzentrierte mich auf sie und versuchte, in ihre Gedanken einzudringen. Doch alles, was ich spürte, waren nasse Haare, schmerzende Knie und ein Gewirr von Gefühlen - Angst und Hoffnungslosigkeit, Verzagtheit, Verzweiflung. Der gläserne Klang wurde lauter, jetzt wirkte er fast schrill, und ich fragte mich, ob es dieser etwas schiefe Ton, dieses Gefühl war, über das die Seraphim die Seelen fanden, die verloren zu gehen drohten. Mir ging er jedenfalls ziemlich an die Nieren.
Sie dachte überhaupt nicht an ihre Zukunft und die Gedanken, die sie von einem Moment in den anderen zogen, schienen kaum über ihre derzeitige Existenz hinauszugehen. Ich versuchte, im Geiste in den grauen Nebel einzudringen, der zwischen jedermanns Gegenwart und Zukunft lag, um Tammys Bewusstsein zu erreichen, so wie ich es mit Nakita oder Barnabas tat. Aber es war, als versuchte man einen Faden in eine Nadel einzufädeln, wenn man weder das Nadelöhr noch den Faden sehen konnte. Wie sollte das funktionieren? Aber dieser Ton, den ihre Aura von sich gab … vielleicht konnte ich den abwandeln.
Ein Poltern irgendwo im Gebäude ließ mich die Augen aufreißen und ich sah auf die Uhr. Noch nicht einmal eine Minute war vergangen. Okay, immerhin hatte ich sie gefunden. Mai sehen, ob ich auch irgendetwas verändern konnte. Ich rückte auf dem dünnen Polster des Stuhls hin und her und versuchte, mich zu sammeln.
Ich zwang meine Gedanken zur Ruhe und fokussierte sie auf die Welt hinter meinen geschlossenen Lidern, bis diese voll und ganz vom Grün und Orange von Tammys Aura ausgefüllt wurde. Wenn ich lautlos mit Barnabas oder Nakita kommunizierte, musste ich die Farben meiner Gedanken ändern. Ich wusste gar nicht, wie das eigentlich genau funktionierte, außer dass ich mich genau auf die beiden konzentrieren und mir ihre Persönlichkeiten vor Augen führen musste: Nakitas Eifer und ihren Wunsch, alles zu verstehen, Barnabas’ tief wurzelnde Traurigkeit über die Tragik des menschlichen Lebens. Aber wenn ich jetzt genauso intensiv an Tammy dachte, würde das nur ihre bereits vorhandene Aura stärken. Und das war nicht mein Ziel´.
Ich runzelte die Stirn und überlegte, ob die Antwort wohl in ihrer Vergangenheit lag. Ich blickte an dem Band hinunter und sah, dass dort ein trauriges Erlebnis auf das andere folgte, sodass es wirkte, als bestünde ihr Leben aus nichts anderem: die Geburtstagsparty, zu der ihr Vater ihr versprochen hatte zu kommen und bei der er sich dann mit ihrer Mutter gestritten hatte, was ihr alle Freude über das Geschenk, das sie von ihm bekommen hatte, verdarb - das hübsche Portemonnaie, das er so sorgfältig für sie ausgesucht hatte, blieb unbenutzt wegen der Erinnerung, die nun daran haftete.
Dann war da noch die Scham über eine verpatzte Klassenarbeit und noch eine und noch eine, bis sie erkannte, dass es leichter war, von vornherein so zu tun, als wäre es ihr egal, anstatt sich Mühe zu geben und dann doch wieder nur zu versagen. Schlimmer waren nur die Lästereien ihrer Freundinnen über ein anderes Mädchen, denn Tammy war klar, dass ihre Freundinnen, wenn sie über ein Mädchen solche Lügen verbreiteten, es höchstwahrscheinlich mit ihr genauso machten, wenn sie nicht dabei war. Das verdarb ihr all den Spaß, den sie mit ihnen hätte haben können.
Doch das, was mir am meisten zusetzte, war Tammys Überzeugung, dass all die Versprechungen aus ihrer Kindheit, die kleinen Lügen, die unsere Eltern uns erzählen - dass die Menschen nett zu einem sind, solange man nur nett zu ihnen ist, dass alle Menschen im Kern gut sind und dass das Leben für uns mehr Liebe bereithält als Schmerz eben auch nichts anderes waren: nichts als Lügen. Kein Wunder, dass ihre Seele verkümmert war. Sie mochte kein schwereres Leben als alle anderen haben, aber sie war blind für alles Schöne. All die kleinen Freuden wurden einfach beiseitegefegt und vergessen. Ihre Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, war außer Kraft gesetzt, weil sie das Gute einfach nicht mehr wahrnahm.
Als ich ihr Leben so vor mir ausgebreitet sah, musste ich mich ganz schön zusammenreißen, um nicht mit
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