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Böse Schafe: Roman (German Edition)

Böse Schafe: Roman (German Edition)

Titel: Böse Schafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Lange-Müller
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Haupt zurückwarf, ihn ansah. »Ja, bist du denn bescheuert«, brüllte er.
    Die übrigen vier standen um uns herum, mir und einander sehr nahe, in der Enge des Kabuffs. Auch sie glotzten wütend, was ich nur bemerkte, weil ich den Blick des Brüllaffen nicht noch einmal erwidern wollte, also an ihm vorbeischaute. Dann sah ich gar nichts mehr; in meinem Schädel sammelte sich Wasser, das höher stieg und mir schließlich aus Augen- und Nasenlöchern floß, als sei ich ein am aufgedrehten Hahn hängender, aber völlig verhedderter Gartenschlauch, der, vom Druck strapaziert, die ersten vier Lecks bekommen hatte. Ich schluchzte, schniefte, keuchte, hörte nichts außer mir, bis ich mit kaum verständlicher, mir selbst fremder Piepsstimme fragte, ob ich rauchen dürfe. Eine Hand griff nach meinem Kinn. Der, dem die Hand gehörte, oder ein anderer sagte: »Kopf hoch.« Mir wurde übers Haar gestrichen, ein kariertes Stofftaschentuch gereicht, ein Stuhl in die Kniekehlen und eine brennende Zigarette in den Mund geschoben. Jemand seufzte: »Ach, Mädel, du bist doch noch so jung«; und ich heulte weiter, und die Zigarette schmeckte wie fritierter Gummi.
    Der Wind war umgeschlagen, die Wut der Eisenbahner schneller verraucht als diese erste von all den Zigaretten, die sie mir noch geben sollten. Bis auf den, der mich hochgezogen und bescheuert genannt hatte, wirkte keiner dieser Männer jünger als vierzig, und darum hatten meine Tränen womöglich Vatergefühle in ihnen geweckt,sie jedenfalls bewegt – zu der Annahme, daß ich mich aus Liebeskummer erst besoffen und dann auf die Gleise begeben hätte.
    »Ist ja gut, Kleine«, sagte einer, »vergiß den Arsch. Wegen so was bringt man sich doch nicht um. Du könntest jeden kriegen, hübsch, wie du wärst, wenn du nur endlich die Flennerei lassen und dich mal wieder waschen würdest.«
    Ein anderer zog eine flache Halbliterflasche Korn aus der Innentasche seiner Jacke. »Ich und der Rolf hier«, sagte er, auf den dicken Mann neben sich zeigend, »wir haben gleich Feierabend. Also werden wir uns jetzt einen gönnen.« Und Rolf öffnete einen der Blechspinde an der uns gegenüberliegenden Wand, entnahm ihm drei Gläser, stellte sie auf den Schreibtisch.
    »Aber erst soll sie mal einen Happen essen, fertig, wie die ist«, meinte der lange Schmale, den ich für einen der beiden Transportpolizisten hielt. Er erhob sich, ging zu dem Regal hinter mir, kam zurück mit einer Brotbüchse, aus der er eine halbe, würzig duftende Klappstulle klaubte, und einer Thermosflasche, in deren Verschlußkappe er dampfenden schwarzen Kaffee füllte.
    Ich aß die Mettwurststulle, trank den Kaffee, den Schnaps, und noch einen und noch einen, und meine Tränen hörten auf zu fließen. Nee, nee, sagte ich leise und so nett, als müßte nun ich diese Männer trösten, ich habe keinen Liebeskummer, wollte nicht sterben, bloß rauchen; und da unten im Gleisbett, da lag, was mir fehlte, nämlich das hier. Fast schon triumphierend hielt ich den fünf Männern das Päckchen Club hin, das ich endlich aus meiner Umhängetasche hervorgekramt, bisher jedoch nicht gebraucht hatte, weil ich ja bestens versorgt worden war.
    Und abermals drehte sich der Wind; in den Augenpaaren ringsum erlosch das Feuer der Güte, und keine andere als ich hatte es ausgetreten. Der dicke Rolf, dessen Blick am schnellsten zu Asche geworden war, nahm die Thermoskanne vom Tisch, dann die Kornflasche, die er demonstrativ zuschraubte, und fauchte in die Stille hinein: »Das kann doch wohl nicht wahr sein. Du willst uns verarschen, du kleine Kröte, uns weismachen, daß du für ein paar Fluppen den Hals riskierst? Aber damit beißt du auf Granit bei mir. Hol noch mal tief Luft, weil du jetzt nämlich Ärger kriegst, richtig fiesen Ärger.«
    Mir wurde einigermaßen klar, wie töricht, ja gefährlich es gewesen war, in dieser Situation, in den Händen dieser Staatsdiener, die Wahrheit zu versuchen. Und was hieß schon Wahrheit? Gab es jemals einen Menschen, der von Kummer völlig frei gewesen wäre? War nicht spätestens nach Ausbruch der Pubertät jeder Kummer Liebeskummer irgendwie?
    Ich weiß nicht, ob mir derlei Fragen bereits in der Eisenbahnerbutze durch den Kopf gegangen waren oder erst, als ich neben dir lag und dir diese Geschichte nicht erzählen konnte. Oder entstehen sie gerade jetzt, da mich beide Geschichten beschäftigen, jene, die sich damals in Königs Wusterhausen zutrug, und unsere, die nicht zu Ende sein wird, bevor es

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