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Böse Schafe: Roman (German Edition)

Böse Schafe: Roman (German Edition)

Titel: Böse Schafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Lange-Müller
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glücklich, obwohl ich es war.
    Irgendwann schliefst du ein, hast ja ohnehin nichts lieber getan als schlafen; ich aber blieb wach und dachte an etwas, das ich Jahre zuvor erlebt hatte. In jener Nacht glaubte ich, diese Geschichte sei das Pendant zu deiner, wenn nicht die Antwort drauf, und wollte sie dir erzählen; doch dabei blieb es. Denn obwohl du dich dazu nie geäußert hast, gewann ich mit der Zeit den Eindruck, daß du Geschichten nicht sonderlich mochtest, weder erzählen noch hören. – Jetzt, Harry, kann ich dich nicht mehr langweilen, kannst du nicht mehr wegpennen, während ich rede, nicht mehr mitten in einem meiner Sätze aus dem Zimmer latschen, Minuten später zu mir zurückkehren und auf deine unnachahmlich sanft abweisende Art fragen: »Und nun?«
    Es war an einem Sonnabend im Oktober 63 gewesen. Ich war morgens mit der S-Bahn nach Königs Wusterhausen gefahren, um Pilze zu sammeln, aber eigentlich, um die Schwermut zu zerstreuen, die mir seit Tagen auf dem Gemüt kniete, ohne daß ich den Grund dafür wußte. Doch weil es zu regnen begonnen hatte, kam ich nicht einmal bis zum Waldrand, sondern ging in die Bahnhofskneipe – und blieb dort hängen.
    Die Kneipe war voller Männer, merkwürdiger Männer, deren Augen blitzten, obgleich nicht wenige von ihnen schon doppelt zu sehen schienen. Und alle waren sie tätowiert, manche nicht nur an den Armen, auch an Händen und Hals, ja, sogar im Gesicht. Ich erfuhr, daß der längliche tiefblaue Fleck neben dem rechten Nasenflügel eines spröden Kerls namens Wilhelm eine Knastträne sei und daß man solche Knasttränen ausschließlich bei »Typen« finde, die »ein paar Jährchen gebrummt« hatten. – Nicht unwahrscheinlich, Harry, daß mir deine Clownspuppe nur wegen des aufgemalten Tropfens unter dem einen ihrer Glasaugen so suspekt gewesen war; doch vielleicht habe ich diese Assoziation auch erst jetzt, da ich mich an Wilhelm und das Wort Knastträne erinnere.
    Er und die meisten der anderen in dem Lokal Versammelten, erzählte mir Wilhelm, seien anläßlich des »höchsten unserer Staatsfeiertage« vor einer Woche amnestiert und gestern entlassen worden aus der »Strafvollzugsanstalt Braunkohlentagebau Regis-Breitingen« bei Altenburg, und nun sei eben »Saufen Fakt«, bis die »paar lausigen Mäuse« für die letzten drei Monate Schinderei im Gleisbau restlos alle und sie »sargdeckelzu« wären.
    Ich fragte nicht, wofür er gesessen hatte, nur, warum er sich gerade in dieser Bahnhofspinte vollaufen ließ und nicht nach Berlin weiterfuhr.
    »Wir, also ich und die dahinten«, Wilhelm (der sich verbeten hatte, daß ich ihn Willi nannte, zu mir aber unbeirrbar Sonja sagte) wies mit dem Daumen über seine Schulter, »sind aus der Gegend hier, und außerdem war der Wirt auch mal einer von uns. Und dann, wo sollen wir denn hin? Denkst du, unsere Weiber würden auf uns warten? Nee, die stehen nicht im Flatterhemd am Herd und schmoren uns Kohlrouladen, mitnichten.«
    Wilhelm hatte starke Schultern, ein indianerrotes Bauerngesicht und alte, glasige Augen. Ich weiß nicht mehr, ob ich mich mit ihm betrank, weil er mir gefiel, oder ob es eher umgekehrt war, bloß noch, daß ich mich nicht lumpen ließ, zumal Wilhelm, trotz der Schnäpse, die er uns alle naselang kommen ließ, weder aus der Rollenoch vom Hocker fiel, sondern bei jeder neuen Lage sein Gläschen gegen meins schob und dazu freundlich »na, denn Prost, Kleene« knurrte.
    Stunden später, draußen herrschte schon tiefe Finsternis, war ich breit genug. Wilhelm, der kurz an die Theke gegangen und mit einem Schlüssel in der Hand wiedergekommen war, legte seinen Arm um mich, so fest, daß ich nicht fallen, ja, nicht einmal stolpern konnte, und führte mich quer durch die verqualmte Kneipe auf eine Tür zu. Ich glaube nicht, daß Wilhelm das, was nun bevorstand, dringend wollte oder brauchte. Doch da die Gelegenheit günstig war und ich vorhanden, gehörte es wohl zum Ich-bin-draußen-Ritual. Und Wilhelm hatte reichlich spendiert oder investiert, und irgendwo mußte ich schließlich auch schlafen – und hatte das noch nie getan mit einem wie ihm, einem, der jahrelang Strafarbeiter gewesen, nun aber begnadigt worden war und wer weiß wie kurz nur in Freiheit bleiben würde.
    Hinter der Tür lag ein kleiner, muffig riechender Raum. Gelbes Licht sickerte durch den plissierten Schirm einer Stehlampe auf den grünlichen Lappen, der die ausgezogene Schlafcouch bedeckte. Wilhelm mimte nicht den Draufgänger,

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