Böser Engel
verbrachten wir damit, Jane in alles einzuweihen. Als sie erfuhr, was es mit unserem Ersatzlehrer auf sich hatte, flippte sie fast aus.
»Bei dem habe ich heute auch Unterricht gehabt!«, rief sie und fuhr dann fort: »Ganz geheuer war der Kerl mir nicht.«
»Das ist die Untertreibung des Jahres«, gab ich zurück. »Er hat es geschafft, dass ich mich wie der letzte Abschaum fühlte.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Jane. »Als er mich angesehen hat, konnte ich spüren, dass er über jede Sünde, die ich jemals begangen habe, Bescheid wusste.«
»Kurz bevor du zu uns gestoßen bist«, ergriff Father Reedy das Wort, »haben wir darüber gesprochen, welchen Einfluss der Engel auf uns hat und dass er Stuart und mir aus unerfindlichen Gründen nicht so viel anhaben kann. Und deiner Mutter anscheinend auch nicht, wenn ich mich nicht täusche.«
»Na ja, sie war schon wütend auf mich«, warf Jane ein. »Aber sie war nicht der Meinung, ich sei eine …« Mitten im Satz brach sie ab. Zweifellos dachte sie daran, wie ihr Vater sie genannt hatte, ehe er sie vor die Tür gesetzt hatte.
Als Chester den Mund öffnete, um das Wort zu erraten, verpasste ich ihm kurzerhand einen Tritt unter dem Tisch.
»Schon gut, du musst nicht weitersprechen«, sagte Father Reedy, während Chester aufjaulte und sich das Schienbein rieb. »Am besten sollten wir jetzt herausfinden, was deine Mutter, Stuart und ich gemeinsam haben. Wenn wir wissen, warum der Engel uns nicht so leicht in seinen Bann ziehen kann, gelingt es uns vielleicht, die Stadt zu retten.«
»Die Stadt zu retten?«, wiederholte Chester. »Warum kümmern wir uns nicht darum, uns selbst zu retten?«
»Wenn wir die Stadt aus Brightlys Bann befreien, sind wir automatisch in Sicherheit«, erklärte ich ihm. »Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Die Zeichen stehen auf Sturm. Ich habe das ungute Gefühl, dass alles immer schlimmer … Moment, hört ihr das auch?«
»Was?«, fragte Jane.
»Klingt wie …«, sagte Chester.
»O nein«, entfuhr es Father Reedy, ehe er wie von der Tarantel gestochen aus dem Raum stürzte.
»Was denn?«, fragte Jane erneut. »Was …? Oh.«
»O ja«, sagte ich und lief Father Reedy nach.
Vom Wohnzimmer aus waren die Gesänge besser zu hören. Genau wie die Schritte Dutzender – wenn nicht Hunderter – Füße.
»Ist es so schlimm, wie es sich anhört?«, erkundigte ich mich leise.
Father Reedy, der zum Wohnzimmerfenster hinaussah, drehte sich zu mir um und nickte.
»Lassen Sie mich raten«, sagte ich. »Hat sich da zufällig ein Mob versammelt, bewaffnet mit brennenden Fackeln und Mistgabeln?«
»Ich fürchte ja«, erwiderte er.
»Besteht die Möglichkeit, dass sie protestieren, weil Ihr Nachbar gerne mal die Musik zu laut aufdreht?«
»Wohl eher nicht.«
»Das habe ich schon befürchtet«, antwortete ich.
»Ich nicht«, murmelte Reedy niedergeschlagen und ließ sich in einen Sessel fallen. »Dass sich die Situation so entwickeln und so schnell eskalieren würde, hätte ich nicht gedacht. Ich hatte gehofft, wir könnten die Menschen durch Gespräche zur Vernunft bringen und ihnen klarmachen, dass sie in die Irre geführt werden.«
Im selben Moment zerschmetterte ein Stein das Fenster. Erst einer, dann noch einer.
»Ich schätze, dass es jetzt ganz offiziell zu spät dazu ist«, sagte ich. »Diese Stadt ist jenseits von Gut und Böse.«
»Nein!«, rief Father Reedy und erhob sich. »Nein, ich kann und werde das nicht einfach hinnehmen. Das da draußen sind freundliche Menschen. Tief in ihrem Innern, unter all dem künstlich geschürten Hass, schlagen reine Herzen. Und es ist meine Aufgabe, die Leute daran zu erinnern.«
»Father Reedy, nein!«, schrie ich, als er bereits die Haustür aufriss. »Tun Sie das nicht!«
»Vertrau mir«, entgegnete er, ehe er nach draußen ging, um der aufgebrachten Meute entgegenzutreten.
Es waren um die hundert Menschen, die sich versammelt hatten. Keiner von ihnen blickte besonders fröhlich drein. Es hätte mich kaum gewundert, wenn sie eine Art Uniform getragen hätten, aber sie sahen aus wie immer. Im Schein der Fackeln erkannte ich unzählige bekannte Gesichter: Chesters Eltern, Janes Vater, ein paar Lehrer, Rektor Raiser, Mrs. Farmson und ihr Sohn Jacob. Hier und da sah ich einige Polizisten in der Menge – ein doppelt schlechtes Zeichen. Erstens konnten wir sie nicht zu Hilfe rufen. Und zweitens bestand die Gefahr, dass es zu einer Schießerei kommen könnte.
Ganz hinten entdeckte ich
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