Böser Engel
ihr bei. »Ich gehe gleich los und hole Nachschub. Wieso fängst du in der Zwischenzeit nicht schon mal an?«
»Nichts lieber als das«, erwiderte meine Mutter, während Mr. Brightly zur Tür lief.
»Mom, du musst das nicht tun«, sagte ich, sobald der Engel fort war. »Ich bin dein Sohn. Hast du das etwa vergessen? Du liebst mich.«
»Deswegen nehme ich das alles ja auf mich«, erklärte sie mir und packte mich unsanft am Ohrläppchen. »Ich liebe dich so sehr, und deshalb muss ich dir zeigen, dass du vom rechten Weg abgekommen bist.«
Mit diesen Worten zerrte sie mich zu dem einzigen Stuhl im Raum. Da ich noch immer gefesselt war, musste ich auf den Knien robben, um mit ihr mitzuhalten. Wenn ich auch nur für den Bruchteil einer Sekunde innehielt, kniff sie fester zu, und ich wurde mit einem stechenden Schmerz im Ohr bestraft. Diese Methode hatte sich schon in meiner Kindheit als höchst effektiv erwiesen. Mom hatte nichts verlernt.
»Hinsetzen«, befahl sie mir.
Ich gehorchte.
»Herrje, dein Ohr blutet ja.«
Als ob das überraschend war. Mom trug ihre Fingernägel seit jeher lang und feilte sie spitz. Es war nicht das erste Mal, dass sie mich damit verletzt hatte. Aber so schmerzhaft die Kniffe ins Ohr auch waren: Sie waren nichts im Vergleich zu dem, was mich im Anschluss daran stets erwartete … Das wusste ich aus Erfahrung.
Oje!
»Warte, ich versorge nur schnell die Wunde«, sagte sie, und im selben Moment stieg mir der gefürchtete Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase.
Jod, dachte ich. Bevor ich wusste, wie mir geschah, tupfte sie die kleine Wunde damit ab. Ein heftiger Schmerz durchzuckte mich, genau wie ich ihn von früher in Erinnerung hatte. Mir war natürlich klar, dass die Disziplinierungsmaßnahmen, die mich erwarteten, um einiges schlimmer sein würden. Wenn Mom dachte, sie könnte damit meinen Willen brechen, hatte sie sich jedenfalls getäuscht.
Aber vielleicht tat sie das alles nur, um mich zu zermürben …
Sie nahm mein anderes Ohr zwischen ihre Fingernägel und riss es mit aller Kraft nach hinten. Ich zuckte zusammen, schaffte es aber, nicht zu schreien. Selbst dann nicht, als sie Jod auf die frische Wunde träufelte.
»Wenn du denkst, dass dir deine Ohren weh tun«, sagte sie, »dann warte mal ab, was als Nächstes kommt, mein Sohn.«
Wir befanden uns also schon mittendrin in der Lektion. Innerlich machte ich mich auf das Grässlichste gefasst und wartete ab. Im selben Moment schob sie mir etwas in jedes Ohr. Einen Augenblick lang hörte ich nichts, ehe dröhnend laute Musik meinen Gehörgang erfüllte.
Noch dazu grottenschlechte Musik.
Meine Schwester Tiffany liebte Boybands, allen voran eine Gruppe namens 5-FAD. Ich konnte diese Knalltüten auf den Tod nicht ausstehen. Mehr als einmal hatte ich gelästert, dass man jemanden mit ihrem Gejaule foltern könnte. Vermutlich hatte Mom sich das gemerkt.
We’re 5-FAD
An’ we’re here to stay.
We ain’t never
No we never
Gonna go away …
Versteht ihr jetzt, was ich meine?
Die reinste Qual für jedes Ohr.
»We’re here to stay« – also bitte! Jede Band, die solche Zeilen singt, verschwindet schneller wieder in der Versenkung, als man bis drei zählen kann. Zugegeben, ich konnte die Band nicht ausstehen, aber es fühlte sich nicht wirklich wie eine Folter an. Die Jungs hatten echtes Nervpotenzial und machten mich leicht aggressiv, aber das war es auch schon.
Doch schon beim nächsten Song sollte sich das ändern.
»Ich fasse es nicht!«, rief ich, als die kreischende Stimme von Jennifer Carey in unfassbarer Lautstärke mein Trommelfell malträtierte. Noch nervtötender als Boybands sind nur Popdiven.
I love you baby
But if you cheat
Then you don’t get to be
My baby …
»Aufhören!«, rief ich. Ich warf den Kopf in den Nacken und riss ihn gleich wieder nach vorne, in der Hoffnung, dadurch die Kopfhörer abzuschütteln. Als das nicht klappte, ließ ich mich nach vorne kippen, wodurch ich meiner Mom den MP3-Spieler aus der Hand riss. Als dieser direkt neben mir landete, trampelte ich wie ein Wilder darauf herum.
Ich hasste Jennifer Carey wie die Pest.
»Oje«, sagte meine Mom, als sie das kaputte Gerät aufhob. »Jetzt muss ich mir etwas anderes einfallen lassen, um dich zu quälen. Ganz zu schweigen davon, dass deine Schwester sehr unglücklich sein wird, wenn sie sieht, was du mit ihrem Gerät gemacht hast.«
»Ich bin vor lauter Schuldgefühlen völlig geknickt«, gab ich zurück. »Was
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