Boeser Traum
gehen. Das kommt ihnen falsch vor. Sie setzen sich in die trübe Krankenhaus-Cafeteria. Michael Engels holt zwei Kaffee und eine Cola.
»Sie hatte keinen Helm auf«, sagt Michael irgendwann leise.
»Was?« Dagmars Hand mit der Kaffeetasse verharrt in der Luft. »Woher weiÃt du das?«
»Dr. Hofer hat es gesagt, bevor du kamst.«
Dagmar Engels schüttelt den Kopf, verplempert Kaffee. »Das kann nicht wahr sein. Sie trägt auf dem Rad einen Helm, seit sie drei ist. Das kann nicht sein â¦Â«
»Sie ist häufiger ohne Helm gefahren in letzter Zeit«, räumt Sophie ein.
»Warum?« Ihre Mutter wird lauter.
»Weil die Frisur danach kacke aussieht«, flüstert Sophie.
»Fährst du auch ohne Helm?«, erkundigt sich Michael Engels bei seiner ältesten Tochter.
»Das ist doch total egal«, antwortet die. Soll sie jetzt sagen, dass sie immer mit Helm fährt? Soll sie sich jetzt als Vorzeige-Tochter outen? Das geht ihr gegen den Strich. Nur, um was anderes zu sagen, fragt sie, ob jemand was essen möchte. Die Eltern schütteln unisono den Kopf. Alle drei denken an den Grill, der immer noch im Hof steht, an die SpieÃe, den Salat, das Kräuterbaguette, das zu Hause wartet â so als wäre nichts passiert.
Zwei Stunden, vier Kaffee und zwei Cola später stehen die drei auf. Dagmar Engels fährt mit dem Aufzug noch mal kurz nach oben, stellt sich vor die Tür zur Intensivstation und flüstert ein »Schlaf gut, mein Engelchen« an die Scheibe.
Wortlos räumen sie zu Hause die Stühle, den Grill und alles weg. Als alles getan und wenig gesagt ist, bleibt Michael Engels im Flur stehen.
»Wenn sie wach wird, rufen sie hier an«, stellt er fest.
Dagmar nickt.
Er guckt sie unsicher an. »Darf ich in ihrem Bett schlafen?«
»Das würde ich am liebsten auch«, sagt Dagmar gedankenverloren.
Ihr Exmann zieht eine Augenbraue hoch. Sie lächelt ihn traurig und müde an.
»Soll ich das Bett frisch beziehen?«
»Bitte nicht.«
Wie viel ist zu viel?
S oll ich jetzt wirklich die 110 anrufen?« Uwe Brandt hat das Telefon schon in der Hand.
»Mon Dieu! Was sonst?«
Er nickt und tippt. Ganz sachlich erklärt er dem Beamten am anderen Ende der Leitung, dass die Tochter vermisst werde. Seit heute Vormittag. Sie sei mit dem Rad weg. Hätte nicht gesagt, wo sie hin wolle. AuÃerdem habe sie gelogen. Sie hätte angeblich zu einem Jungen in der Nachbarschaft gewollt. Aber da ist sie nicht gewesen. Und der Junge wusste auch von nichts.
Schon während Uwe Brandt die Fakten durchgibt, merkt er, wie albern er klingt. Eine Jugendliche ist seit ungefähr sechs Stunden nicht nach Hause gekommen und ist auch nicht zu erreichen. Das klingt eher normal. Nicht wirklich nach einem Verbrechen. Diese ganz neutrale Beschreibung hat nichts, gar nichts gemein mit den Ãngsten in ihm. Uwe Brandt nickt ein paarmal, was am Telefon ziemlich bescheuert ist. Er murmelt so etwas wie »Ja, da haben Sie wohl recht« und »Ich verstehe« und legt auf.
»Und?« Claudine Brandt war kurz in den Garten gegangen, sie hatte das Gefühl, nicht an einem Ort verharren zu können. In ihren drei Buchstaben liegt zu viel Hoffnung.
»Na ja. Wir sollen uns nicht zu viele Sorgen machen. Und uns gegebenenfalls später noch mal melden«, antwortet ihr Mann.
»Nicht zu viele Sorgen? Was ist zu viel? Sollen wir hoffen, dass sie nur betrunken irgendwo abhängt, aber in dem Zustand nicht gerade vergewaltigt wird? Sollen wir hoffen, dass sie nur drei Tage verschwunden bleibt, aber nicht die nächsten drei Jahre? Was ist zu viel?«
Sie ist laut. Die Angst presst ihre Stimme in unangenehme Höhen.
»Claudine, lass uns bitte nicht hysterisch werden. Ich kann verstehen, dass du Angst hast. Die habe ich auch. Aber mal im Ernst: Charlotta ist seit sechs Stunden irgendwo unterwegs. Wieso denken wir gleich an ein Verbrechen?«
Er geht zu seiner Frau, nimmt sie von hinten in den Arm.
»Vielleicht ist sie ja verliebt? Und sie liegt gerade mit einem sehr netten und nur bisschen verpickelten Jungen in einer Sommerwiese. Es kribbelt in ihrem Bauch und sie geben sich den allerersten Kuss. Und sie kommt gleich nach Hause und hat diesen Du-weiÃt-schon-Blick. Wie ist diese Version?«
Sie verzieht das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. »Dann hoffe ich nur, dass dieser Junge nicht so hartnäckig ist wie du
Weitere Kostenlose Bücher